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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Ist dir nicht gut? fragte ich auf seine Schultern herab.
    Nä, nä, hörte ich sein entzücktes Gemurmel. Nä, nä. Seine Hand ergriff mein Gelenk, zog mich nach unten. >Agrimonia eu- patoria!< stieß Peter Bender hervor. >Agrimonia eupatoria<, dialektfrei. Wie bitte? fragte ich entgeistert. Dat is der Odermen-nisch, und zwar der wohlrieschende Odermennisch, wenn isch rischtisch bin. Vor unseren Schuhen wuchsen ein paar dürftige Pflanzen, winzige Blüten, ährenförmig, an einem fußhohen Stengel. Peter schnüffelte. >Agrimonia odorata<, präzisierte er. Hier, riesch mal. Vorsichtig zupfte er ein Blättchen ab, zerrieb es zwischen den Fingern und hielt es mir unter die Nase. Die unscheinbaren Blüten dufteten honigsüß. Ich hielt seine Hand fest, atmete tief. Agri, Agri, stammelte ich.
    >Agrimonia odorata<, wiederholte Peter Bender stolz, als hätte er Pflanze und Duft soeben erfunden. Der Großvater fiel mir ein und wie wir den Blumen Namen gegeben hatten, de Börjermei- sterbloom, de Marienkäferbloom, de Pasturebloom. Peter Bender gab keine Namen. Er wiederholte, was er gelernt hatte. Er taufte nicht, er musterte. >Der Odermennige Peter hatte sich aufgerichtet und hielt einen Blütenstengel in der Hand. >Der Odermennigs dozierte er hochdeutsch, fast ohne Singsang, >wird zu den Klettenarten gerechnet, weil sein holzartig werdender glockenförmiger Fruchtkelch sich mit steifen, gekrümmten Haken an der Mündung bedeckt. Derselbe schließt nur zwei Früchtchen ein< - Peter hielt inne und zerteilte den Fruchtkelch mit seinem Daumennagel: Siehs de, hier un hier -, >während die Rosenblütler, eine Rose oder eine Brombeere, zahlreiche Früchtchen in ihren Kelchen zu reifen pflegen. Deshalb steht der Odermennig auf der Grenze zwischen den eigentlichen Rosenblütlern und einer sich anschließenden kleinen Familie, der Familie der San-gu-i-sor-be-en.< Peter sprach, als läse er von dem Blütenstengel ab.
    Und warum, fragte ich, heißt der Odermennig Odermennig?
    Peter zögerte. Wells de dat werklesch wesse, fragte er.
    Wirklich.
    Peters Gesicht verlor seine Starrheit, als bräche ein zweiter, der wirkliche Peter, aus seiner Verpuppung. Das kommt aus dem Lateinischen, erklärte er glückstrahlend. >Agrimonia nannten sie die Alten, dann, im Mittelalter, wurde Agramünia, Agramennik, Akamennik, Akamünz, Odermennig daraus.<
    Noch mal!
    >Agrimonia nannten sie die Alten, dann, im Mittelalter, wurde Agramünia, Agramennik, Akamennik, Akamünz und Oder-mennig daraus<, wiederholte Peter, als rassele er Fischers Fritze herunter.
    Kannst du mir das aufschreiben?
    Opschrieve? fragte er gedehnt.
    Ja, sagte ich, ich meine es ernst.
    Peter drückte meine Hand so fest, daß ich aufschrie. Versprochen, sagte er.
    Sein Großvater, erzählte er auf dem Heimweg, habe ihm drei alte Pflanzenbücher vererbt. Anfangs sei die Schrift ungewohnt gewesen, aber jetzt kein Hindernis mehr. Ob ich noch mehr vom Odermennig wissen wolle.
    Wir standen noch gut fünf Minuten an Piepers Eck, bevor mein Begleiter die herrlichen Eigenschaften dieser unscheinbaren Pflanze bis zum Ende aufgezählt hatte. Gegen den Biß wilder Tiere, Tiere mit Teha, sagte Peter, und als Heilmittel, selbst bei krebsartigen Geschwüren wirke es Wunder, weshalb es im Deutschen auch den Beinamen >Heil aller Welt< trüge. Ein gewisser Plinius, es müsse ein Römer sein, ob ich Näheres wisse. Ich senkte beschämt den Kopf, bat ihn, den Namen ebenfalls zu notieren. Dieser Plinius erzähle von einer Pflanze, die man ohne Anwendung eiserner Werkzeuge, am besten aber mit bloßen Händen ausgraben mußte, wenn sie gegen Krebs und Tierkrankheiten wirksam sein sollte. Zudem müsse der Grabende dabei sprechen: >Dies ist das Kraut Argemon, welches Minerva für die Schweine, die davon fressen, erschaffen hat.< Ob ich wisse, wer Minerva sei. Ich senkte zum zweiten Mal den Kopf und bat, auch diesen Namen aufzuschreiben.
    Nachts träumte ich von Fruchtkelchen, Klettenhaken, fruchtigen Samenkügelchen, die sich mit klingenden Silben vermischten, verbanden, durcheinanderwirbelten, ein Chaos von Blüten und Lettern. Buchstaben wuchsen aus leierförmig gefiederten Wurzelblättern, Silben trieben süß duftende Rispen kleiner Sternblümchen hervor, die ihrerseits lampionförmig A und O herausflockten. An Komma-Fallschirmchen glitten sie zwischen die Zeilen, die wie sauber geharkte Beete schimmerten. Staubgefäße reckten sich nach wortgenauer Befruchtung, Fruchtknoten streckten die rundlichen

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