Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
Vom Netzwerk:
gerade erheben, als Rudi eintrat. Er glänzte frisch gewaschen und roch nach Talkumpuder. Es nutzte nichts. Hanni mußte in ihrer Kitteltasche nach dem Fläschchen mit dem Gummiballon greifen und sich Luft in den Rachen, die Lungen pumpen. Rudi tat, als merke er nichts.
    Sitzen bleiben, sitzen bleiben, drückte er die Tante wieder in den Sessel, sah weg, als Maria sich verstohlen die Tränen abwischte, und fragte munter: Na, wie fühlen wir uns denn heute? Lässisch, locker, sischer, souverän. Rudi stieß die Wörter wohlgelaunt hervor, bei jeder Silbe an einem anderen Finger ziehend, bis es knackte. Wir saßen stumm.
    Rudi fuhr sich durchs Haar. Nun, wo waren die Damen denn stehengeblieben? Wat soll isch heute kochen? Oder wat soll isch heute anziehen? Ha-ha-ha. Rudi hatte sich während seiner Arbeit als Reitlehrer, die ihn, wie die Tante es ausdrückte, in höhere Kreise führte, ein Hochdeutsch mit Knubbele, so ebenfalls die Tante, angewöhnt. Er trug ein blaues Hemd mit weißen Punkten und eine weinrote gerippte Strickjacke über braunen Manchesterhosen. Der Kragen stand offen, darunter dunkles Haarge- kräusel. Rudi sah anders aus als meine Onkel und Cousins, doch auch nicht wie die vom Büro bei Maternus oder meine Lehrer. Weder wie ein Arbeiter oder Bauer noch wie etwas Besseres sah er aus, ähnelte vielmehr einem Schauspieler, bereit, in jede Rolle zu schlüpfen. Wir verlangten ihm keine ab. Maria, Margot, die Tante und ich machten einfach die Tür hinter uns zu, wie ein Buch. Die Geschichte von Hanni und Rudi ging ohne uns weiter.
    Maria umklammerte beim Abschied meine Hand, wie damals die sterbende Alte meine Hand umklammert hatte. Ich mußte die Zähne zusammenbeißen, um nicht aufzuschreien und meine Hand aus der ihren zu reißen. Wo wirklich gelebt wurde, da wurde auch wirklich gestorben. Nur Bücher starben nicht, machten sich nicht einfach aus der Welt, wie der Großvater, wie die Alte und nun Maria.
    Meine drei Jahresarbeiten hatte ich abgegeben. Nur die über Igel war benotet worden, gut. Aber auch die beiden anderen Mappen lagen in dem Flur beim Lehrerzimmer aus. Rosenbaum, Biologielehrer der Parallelklasse, hatte mich beiseite genommen, vor allem für mein Herbarium gelobt und gefragt, was ich denn werden wolle. Der letzte Schultag rückte näher. Ins Leben treten würden wir. Fräulein Abendgold verteilte ein Papier. Wir sollten es zu Hause unterschreiben lassen: erstmals hatten Realschüler die Möglichkeit, auf einem Aufbaugymnasium das Abitur zu machen. Sogar das große Latinum. Ich las den Brief den Eltern vor, ich konnte die Wörter kaum herauswürgen, aufschluchzend rannte ich aus der Küche, die Stimme der Mutter im Ohr: Heejeblevve! Wat jiddet do ze kriesche! Et weed Zick, dat de jet Ver- nünftijes liers [68] ! Du küss noch no Jeckes [69] met dinge Bööscher!
    Ich floh in den Holzschuppen und heulte. Daß ich op et Bürro ging und nicht op Arbeed wie meine Vettern und Cousinen, die Kinder aus der Nachbarschaft: Besseres konnten sich die Eltern nicht vorstellen.
    Hilla, kumm russ, holte mich die Mutter am Abend aus meinem Verschlag. Hie häs de dat Papier. Isch han et ungerschrivve. Wat wells de dann met däm Abitur, du hierods jo doch!
    Zwei Tage später stellte Fräulein Abendgold die Frage. Doris stand auf und Anita Käpp, die Klasse murrte, als sie sich erhob, eine mittelmäßig begabte, sauertöpfische Person, drei Jungen standen auf. Eine eisige Flutwelle ging durch meinen Körper. Durch den Eispanzer schlug mein Herz, als wollte es ihn sprengen. Ich glaubte zu ersticken. Die Lehrerin sah an mir vorbei und nickte den drei Jungen zu, die sich umständlich wieder hinsetzten. Der Eiswelle folgte ein Hitzestrom. Es klingelte. Da stand ich auf. Alle standen auf. Niemand hatte gesagt: Steh auf. Die Lehrerin ging hinaus. Alle gingen hinaus. Die Lehrerin rief meinen Namen. Fast hätte ich es vergessen, Hildegard, sagte sie, als Klassenbeste hältst du natürlich die Abschlußrede. Laß dir etwas Schönes einfallen. Ich heulte mir im Klo die Augen aus dem Kopf.
    Ein Mittel blieb, das Schicksal umzustimmen. Klara und Elfriede, die frommsten Mädchen der Klasse, hatten es ausprobiert. Elfriede, plump und faul, fiel nicht mehr von jedem Sportgerät herunter. Klaras Pickel waren verschwunden. Retav Resnu red ud tsib mi lemmih, Tessürgeg tseis ud, Ariam, betete ich. Tag und Nacht, mit Kerzen und ohne. Da gewann der Vater im Lotto. Fünf Richtige mit Zusatzzahl. Zu teilen mit acht

Weitere Kostenlose Bücher