Das verborgene Wort
frische Hemd legte die Mutter dem Vater zurecht, hängte den Sonntagsanzug raus, bürstete seinen Hut, stellte die guten Schuhe unter den Mantel. Ich hatte meine Haare seitlich zu einem Zopf geflochten, den strafferen der beiden Büstenhalter angezogen, mein zweitbestes Kleid und Strümpfe ohne Maschen. Als wir uns am Morgen in der Küche trafen, wußten wir beide nicht, wo wir hinschauen sollten.
Bis zur Straßenbahnhaltestelle zu gehen war noch beinah alltäglich; der Bruder, seine Mappe unterm Arm, begleitete uns. Die Mutter stand am Gartentor und winkte, bis wir um die Ecke bogen. Bevor der Bruder in seine Bahn stieg, drückte er mir noch einen Groschen in die Hand, wortlos, ich wußte Bescheid.
Zwei Erwachsene, bis Endstation, sagte der Vater und drückte meinen Arm nach unten, als ich die Schülerkarte aus der Tasche nehmen wollte. Ich saß wie gewöhnlich am Fenster mit Blick in die Felder, bis an den Horizont. Tauwetter hatte eingesetzt, auf dem nassen Boden stand das Wasser in riesigen, dunkel schimmernden Pfützen. Über das Land schwangen Stromdrähte von Mast zu Mast. Es wurde rasch heller.
Dä Wetterberischt, ließ sich der Vater vernehmen, ohne mich anzusehen, sacht jutes Wetter an.
Für heute? fragte ich zurück.
Für heute, erwiderte er mit schwerer Zunge. Immer sprach der Vater wie einer, der die Worte von weither holen muß, dem sie nicht auf der Zunge liegen. Mit jedem Wort mußte er durch sein Schweigen brechen, durch seinen eigenen Widerstand.
Für heute, hatte der Vater erwidert, und nicht >för hück<. Hochdeutsche Wörter heraufzuholen, um sie auf dem Weg vom Hirn auf die Zunge aus dem Kölschen umzuwandeln, mußte ihm noch schwerer fallen. Mir hatte er damit die Last der Verstellung abgenommen.
Und morgen? fragte ich.
Morjen? Isch jlaub, dat dat Wetter hält. Kuck mal, dä Himmel. Wann hatte der Vater mich zuletzt direkt angesprochen?
Kuck mal, dä Himmel, sagte er, und ich folgte seiner Hand, die in viel zu engen schweinsledernen Handschuhen steckte - Handschuhen, die er aus seiner Junggesellenzeit über den Krieg gerettet hatte -, und suchte den Himmel ab, dünne, rasch aufreißende Wolken im blassen Licht der heraufziehenden Vorfrühlingssonne.
Ja, nickte ich bereitwillig, das Wetter hält.
Un woran siehs de dat? fragte der Vater zurück. Wann hatte mich der Vater zuletzt etwas gefragt? Häs de dat jedonn? Woos du et? Wie kanns de sujet dunn? Fragen, die meine Schuld voraussetzten und die Antwort mit dem blauen Stöckchen hinter der Uhr schon bereithielten. Erklärungen unerlaubt. Wenn der Vater mich frug, war sicher, daß er auch schlug. Fragen und Schlagen gehörten zusammen. Jetzt aber hatte der Vater wie ein Lehrer gefragt.
An den Wolken, sagte ich aufs Geratewohl. An den Wolken, das hatten wir von der Großmutter gelernt, konnte man schon Stunden vorher herannahende Gewitter erkennen. Warum dann nicht auch gutes Wetter.
Jo, sagte der Vater, an dä Wolken. Un waröm?
Warum, wäre es mir fast entschlüpft. Weil die am frühen Morgen schon so dünn sind? gab ich in fragendem Tonfall zurück.
Rischtisch, sagte der Vater, zog die engen Handschuhe aus und verstaute sie umständlich in den Manteltaschen. Er sah mich nicht an, ich sah ihn nicht an, wir sahen beide aus dem Fenster in die Felder, in den Himmel. Von Wolken und Wind, von Regen und Sonnenschein, von gutem und schlechtem Wetter sprach der Vater wie von alten Freunden, die man so gut kennt, daß sie einem nichts mehr vormachen können. Immer leichter kamen ihm die Wörter, immer geschickter wußte er sie zu setzen wie ein Jongleur, der Tempo und Anzahl der Bälle allmählich steigert. Noch nie hatte ich den Vater so lange sprechen hören.
Was immer man en Kölle zu tun hatte, begann im Dom. Als ich heute mit dem Vater eintrat, dröhnte die Orgel, Labial- und Zungenstimmen, vox humana und vox angelica, der Zimbelstern. Honigmüller hatte mich einmal mit auf die Empore genommen und das Instrument erklärt.
Die Orgel hörte zu spielen auf. In der Kirche war es sekundenlang still, nur das Tappen der Gummipropfen unter den Stöcken der Kirchenschweizer war zu hören und ein Murmeln, ein fernes Brausen, leises Brummen wie von einer größeren, weit entfernten Orgel, dem Verkehr um die Mauern des Doms. Ein zartes, leicht durchsonntes Weihrauchwölkchen vor dem Altar der heiligen Anna zeigte, daß die Morgenmesse gerade vorüber war.
Ich stand mit dem Vater vor der Schmuckmadonna, meine Hand umklammerte die Münzen, ich
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