Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
Vom Netzwerk:
spürte meinen Puls in der Handfläche schlagen und das Rattern einer Straßenbaumaschine, die auf dem Domplatz den Boden ebnete. Ihr Stampfen ließ die alten Mauern beben und ging durch mich hindurch wie mein vom Pulsschlag kreiselndes Blut. Innen und außen, meine Kinderjahre und die Kinderjahre des Vaters flössen ineinander, die des Jesuskindes auf den Armen der Muttergottes und die der Madonna selbst, Kinder wir alle, die ganze Menschheit ein einziges Kind aus einem einzigen Mutterschoß, Kinder, die Gott reden hören, weit weg, wie man als Kind die Erwachsenen reden hört, weit weg und von oben herab und nicht zu verstehen.
    Nu mach ald, riß mich der Vater aus meinen Träumen. Sein Rippenstoß war sanft, fast zärtlich. Einen Groschen in den Opferstock werfen, eine Kerze herausnehmen, anzünden, beten, für jeden einzelnen Groschen ein >Gegrüßet seist du, Maria< und diebesondere Bitte. Ich hatte Groschen dabei für Maria und ihren Krebs, für Hanni und ihr Asthma, für Mutter und Großmutter, weil sich das so gehörte. Eine Kerze für den Vater mit der Bitte, er solle so bleiben, wie er jetzt war. Kerzen opfern konnte man in jeder Kirche; aber die im Kölner Dom wirkten am besten. Mit dem Groschen des Bruders flehte ich für ihn um eine Drei in Mathematik; hier war er schwach wie ich.
    Der Vater kratzte sich am Kopf und klopfte den Hut auf den Bauch. Als ich schließlich knickste und mich zum Gehen anschickte, blieb er stehen; mich umwendend, sah ich, wie er eine der großen weißen Kerzen, die für eine Mark, aufstellte und anzündete. Ich schaute hinauf zum heiligen Antonius, Schutzpatron aller, die da suchen, was verlorenging, vom Portemonnaie bis zum gesunden Magen, vom Schlüsselbund bis zur veruntreuten Liebe. Hilflos lächelnd, als hätte er seine Brille verloren, streckte der Heilige dem Betrachter sein Spendenkästlein entgegen.
    Fuhr ich mit der Mutter und dem Bruder, der Tante oder den Cousinen nach Köln, hatten wir, aus dem Dom kommend, nur ein Ziel: die Schildergasse mit C & A. Die Geschäfte auf der Hohen Straße wurden keiner Betrachtung wert gefunden. Sie waren zu teuer. Anders heute mit dem Vater. Gemeinsam schüttelten wir die Köpfe über einen Anzug für fünfhundert Mark, der auf einer Schaufensterpuppe saß, die keine Schuhe trug. Die standen daneben. Kalbsleder, las ich, genarbt, handgefertigt, achtundneunzig Mark. Nä, entfuhr es mir, nä, dafür kriegt man im Kaufhof mindestens sechs Paar. Den Gipfel erreichte unsere Empörung beim Anblick einer Krawatte aus mittelblauer Seide, bedruckt mit dunkel- und hellblauen ineinandergreifenden Kreisen. Hermes, las ich, Krawatte, achtunddreißig Mark. Es mußte Leute geben, für die achtunddreißig Mark soviel waren wie sechs Mark fünfzig für unsereinen. So viel kostete ein Schlips bei Hamacher in Dondorf, bei C&A waren sie noch billiger. Ob es daran lag, daß Hermes ein Götterbote war? Etwa sechs Anzüge, Schuhe und Krawatten könnte sich der Vater für sein Lottogeld kaufen.
    Im nächsten Schaufenster gab es Abend- und Brautkleider, grell und aufdringlich, als wollten sie einem durchs Glas hin-durch auf den Leib springen, lauthals versprechend: ich mach dich schön, ich mach dich reich, begehrenswert. Eines kostete sechshundert, das andere eintausendfünfhundert Mark, einem dritten, über und über mit Perlen und, wie ich annahm, Diamanten bestickt, weiß und glitzernd wie das Gewand der Schneekönigin, war ein Schildchen beigegeben: Preis auf Anfrage.
    Ein dreizehnbändiges Lexikon konnte man für das billigste dieser Kleider kaufen! Ich stampfte auf. Der Vater ging ein paar Schritte weiter und blieb vor einem Schmuckladen stehen. Ich kannte Kronen und Diademe, Geschmeide, Rubine, Smaragde und Karfunkel, war mit Aladin und seiner Wunderlampe in die Schatzhöhle hinabgestiegen, hatte auf dem Rücken des Vogel Rock die herrlichsten Steine, festgeklebt am Fleisch frisch geschlachteter Schafe, von der Diamanteninsel geflogen, Schiffe mit Kleinodien und Spezereien aus dem Morgenlande über das Meer gesegelt. An Geld hatte ich dabei nie gedacht. Daß man diese Kostbarkeiten wirklich besitzen konnte, war mir niemals in den Sinn gekommen.
    Ich dachte an meine Pflanzen im Herbarium, in den Wiesen am Rhein, im Großvaterbuch. Was war diese Brosche, ein goldenes Körbchen mit Veilchen, die Blüten lila, die Blätter grüne Steinchen, Stengel aus Gold, gegen wirkliche Veilchenblüten? Das hier war keine märchenhafte Schönheit. Diese Ketten,

Weitere Kostenlose Bücher