Das verborgene Wort
Pullover noch, forderte der Vater mit fester Stimme. Jetzt war die Puppe nackt.
Ich aber spulte in meinem Kopf rückwärts gedrehte Gebete ab, bis wir die Kasse - wo ich wegschaute, als der Vater bezahlte - hinter uns gelassen hatten und ich die Tüten mit meinen alten Sachen und den drei neuen Kleidern in der Hand hielt. Ich neben dem Vater in Hosen. In Ledermantel, Lederkappe, Seidenschal, steif und stumm vor Stolz und Neuheit. Dösig vor Glück.
Has de Hunger? fragte der Vater. Ich nickte und drückte seinen Arm, fühlte nichts als den rauhen Stoff und noch einmal Stoff darunter. Er tat, als habe er nichts gespürt. Dat wor früher dä Tietz, sagte der Vater, als wir den Kaufhof betraten. Vor däm Kreesch.
Aha, sagte ich. War das wichtig?
Der wor Jud, sagte der Vater. Habt ihr dat nit in dä Scholl?
Nä, sagte ich und dachte an Abel und Lenchen. In Geschichte sind wir bei Napoleon.
Do wird et aber Zeit, sagte der Vater, dat ihr lernt, wat bei däm Hitler los wor.
Ich schwieg. Vor dem Krieg Tietz und jetzt Kaufhof. Was ging mich das an? War doch egal, wie der Laden hieß.
Wir fuhren ins oberste Stockwerk, gingen durch Lampen-, Bett- und Teppichabteilung ins Restaurant. Eine Speisekarte brauchten wir nicht. Wir bestellten immer Russisch Ei. Eine Portion. Davon aß zuerst die Mutter, dann der Bruder, dann ich. Diesmal, zum ersten Mal, hatte ich ein ganzes Russisch Ei für mich allein, dazu noch Bier, ein helles für den Vater, Malzbier für mich. Wir prosteten uns zu. Schwankte der Boden, wogten die Wände, schlug die Decke leise Wellen, waren der Vater und ich auf einem Schiff, auf hoher See, Übersee, zweimal weg von Dondorf und nie wieder zurück? Die tiefen Linien im Gesicht des Vaters waren weicher geworden, sein Blick entschlossener. Energisch hantierte er mit Messer und Gabel an Ei und Kartoffelsalat herum.
Dafür brauchst du kein Messer, sagte ich. Da gibt et ja nix zem Schneiden.
Nä, sagte der Vater. Und dann: Ach so.
Ja, sagte ich. Ein Ei ist kein Kotelett.
Nä, nickte der Vater, und dann mit schallender Stimme, Ober, zweimal Kottlett.
Bitte, sagte ich. Kotelett bitte.
Bitte, donnerte der Vater. Kottlett bitte!
Eine Weile trieben wir uns noch in der Elektroabteilung herum, kauften für die Mutter ein Heizkissen mit dreistufiger Schaltung, der Bezug blau mit weißen schlafenden Schäfchen, und ließen uns von einem Verkäufer die Vorzüge verschiedener Fernsehgeräte erläutern.
Fast hatten wir den Bahnhof erreicht, da wagte ich es. Ich zupfte den Vater beim Ärmel vor das Schaufenster der Buchhandlung, die ich schon am Morgen mit einem Seitenblick gemustert hatte.
Da, sagte ich, das ist der neue Brockhaus. In zwölf Bänden.
Das Wissen der Welt. Und alles auf Raten. Ich sah den Vater von der Seite an. Von einer Sekunde auf die andere war er wieder der alte. Ich hörte seine Zähne knirschen, und seine Backenmuskeln spannten sich so hart, daß ich glaubte, Wasser in seine Augen treten zu sehen.
Bööscher? Nä, sagte er in seinem üblichen mißtrauisch-feindseligen Ton und schubste mich weiter. Kanns de dann ding Bööscher nit emol verjesse?
An einer der Buden, die an den Mauern des Doms klebten wie Schwalbennester an alten Scheunen, kaufte er mir ein silbernes Armband mit einem kleinen funkelnd bunten Dom und versuchte, das Kettchen um mein Handgelenk zu schließen. Seine Finger waren zu steif und ungelenk. Du has doch jern en Andenken. Diesmal drückte ich seinen Arm so fest, daß ich den Widerstand seines Fleisches spürte.
Ja, Papa, sagte ich und dachte, aber das ist lange vorbei, da war ich noch klein. Ich übertrieb meine Freude so lange, bis die Züge des Vaters sich wieder lösten.
Auf dem Weg vom Zug zur Straßenbahn nach Dondorf wagte ich endlich, den Vater zu küssen, streifte seine stoppelige Haut, hielt sekundenlang inne für einen leichten Druck meiner Lippen zwischen Schläfe und Ohr. Er roch nach Tabak, fühlte sich trocken und dürr an wie abgestorbenes Holz und hob die Arme, die an seinem Körper herabhingen, nicht. Ich ließ ihn gleich wieder los. Mein Herz raste. So viel wilder klopfte mein Herz als bei meinem ersten Kuß mit Sigismund. Mein erster Kuß für den Vater.
Vorbei war die Reise erst, als wir bei Kniepkamp den Fernsehapparat bestellt hatten. Er wurde zwei Wochen später geliefert und erhielt seinen Platz in der Küche, wo immer geheizt war. Das Vertiko der Großmutter mußte dafür auf den Speicher. Jetzt besaßen wir den ersten Fernseher in unserer
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