Das verborgene Wort
Wiese sprengten wir wieder grün.
Drei Kleider hatte ich verschont. Die Kleider aus Köln, die Kleider vom Vater. Anderntags zog ich das schönste an, das tür- kisfarbene mit den weißen Lederstreifen, und stöckelte nach dem Hochamt an den Rhein. Nahm den erstbesten Stein in die Hand und versenkte mich in ihn, versank in ihm und versenkte mich in hohem Bogen im Rhein. Ich war leer. Eine Hülle. Eine sich bewegende, sprechende, menschliche Hülle. Unauffällig, anpassungsfähig, willig, dienlich, schwarz. Leer und schwarz.
Ich stenographierte den ganzen Sonntag hindurch. Bat den Bruder, mir zu diktieren, einfach so, was ihm in den Kopf komme. Es ging nicht schlecht.
Jesses Maria, schrie die Mutter am nächsten Morgen, als ich in die Küche kam. Sie erkannte die blaue Hose, den gelben Pullover auch in der schwarzen Verwandlung. Waat, bes dä Papp heem kütt!
All? fragte der Vater, als er, es war schon dunkel, am Küchentisch saß und sich mit dem Taschenmesser Öldreck und Erde unter den Fingernägeln hervorholte. Nä, sagte ich. Unsere nit. Nit die aus Köln.
Der Vater nickte, schob die Dreckklümpchen auf der alten Zeitung zu einem Häufchen, knüllte das Papier zusammen und warf es in den Herd.
Ob ich zu den Existentialisten übergelaufen sei, feixte im Bus zur Berufsschule einer der älteren Gymnasiasten und weidete sich mit seinen Kumpanen an meiner verständnislosen, verlegenen Miene. Ich schaute das Wort sogleich im Lexikon nach: >Existenz< fand ich und >Existenzminimum<. Bei >Existenz< den Verweis auf >Dasein<, bei >Dasein< den auf >Wirklichkeit<, bei Wirklichkeit den auf >Realität<. >Realität< las ich, >die Eigenschaft, real (s.d.) zu sein< (von lat. res, Sache), bezeichnet das Sachliche oder Inhaltliche im Unterschied zum Formalen, bes. Sprachlichen; d. h. Sachkenntnisse im Gegensatz zu sprachlichen. Daher auch Realschule mit vorw. Realien, dem Sachlichen befaßt, im Ggs. zum Gymnasium mit dem Formalen, bes. Sprachlichen befaßt.<
Ich war zerschmettert. Woran hatten die beiden im Bus erkannt, daß ich nicht länger mit Sprachlichem, mit meinen Büchern, mit schönen Wörtern und Sätzen >befaßt< war, sondern mit Schreibmaschine und Stenographie, mit Holz und Pappe. Daß mich nicht mehr der Inhalt von Papieren interessierte, sondern ihre Beschaffenheit, ihre >reale Qualität Wie dick, wie leicht, holzfrei, gebleicht. O flaumenleichte Zeit der dunklen Frühe, hundert Kubikmeter Fichte geschält. Woher wußten sie, daß ich mein Dasein, meine Existenz auf >die Realien< gestellt hatte?
Kurz darauf begegnete ich Hanni. Weit vom Dorf, fast bei Pleen, kam sie mir auf dem Fahrrad entgegen und schien, als sie mich sah, umdrehen zu wollen. Ich winkte und fuhr schnell auf sie zu. Noch bevor sie mich grüßte, sprudelte sie heraus, daß sie in Hölldorf eine alte Freundin besucht habe, eine ganz alte; dabei drehte sie sich immer wieder um, bis auch ich das Fahrrad bemerkte. Der Mann trug eine Kappe und ein weithin leuchtendes, kornblumenblaues Hemd. Hanni redete. Wir schoben unsere Räder nebeneinanderher, und ich fand die Cousine schön und jung, auch roch sie wieder beinah so frisch wie in den Tagen ihrer Brautzeit mit Ferdi nach gutem Brot und Stärke, vielleicht ein wenig voller.
Ob es stimme, was die Tante erzähle, wollte sie wissen, daß ich alle meine Kleider schwarz gefärbt hätte. Ich nickte. Dann sei ich ja eine richtige Ex, Ex, Exin - wir brachten das Wort gemeinsam nicht heraus. Schwarz sei das Kennzeichen dieser, dieser Leute, sagte Hanni. In der >Hörzu< sei neulich ein ganzer Artikel darüber zu lesen gewesen. Die Zeitung liege noch im Keller.
Der Artikel war mit >Bonjour tristesse< überschrieben, leider hatte jemand etwa ein Fünftel der Seite herausgerissen. In der Tat trugen alle Menschen auf den Fotos dunkle Kleidung. Röhrenhosen und Rollkragenpullover, die Beine der Anzughosen zerknautscht, die Sakkos zu weit, Hemden mit offenen Kragen ohne Krawatte. Die Männer hielten sich krumm, waren schlecht rasiert, als lohnten sich derlei Äußerlichkeiten nicht. Niemand lächelte oder zeigte gar freundlich die Zähne. Den Frauen fielen
Fransen tief in die Stirn, und sie guckten aus schwarz gemalten Augen tragisch. Im Gedruckten ging es um das Nichts, um geistige Leere, um Traurigkeit und Überdruß am Leben. Ich hatte das Buch >Bonjour tristesse< im letzten Jahr gelesen, Doris hatte es heimlich vom Stapel ihrer Mutter genommen. Mit Lisa, der siebzehnjährigen Erzählerin, die sich in
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