Das verborgene Wort
hatte es meine Bitten um einen Holländer, wie er dem Bruder, oder einem Roller, wie er Birgit beschert worden war, mißachtet und mich statt dessen mit einer Baumwollgarnitur aus Ägyptisch Makko oder einem Biber-Schlafanzug abgespeist, die ich zuvor in Zilli Botts Schaufenster zwischen nadelnden Tannenzweigen hatte verstauben sehen.
Eine Zeitlang suchte man mir die vielen Geschenke des Bruders damit zu erklären, daß das Christkind seinen Weg nach Dondorf über Rüpprich nehme, wo ihm dessen begüterte Patentante alljährlich mit Erspartem unter die Arme greife. Dann leuchtete mir das nicht mehr ein. Wenn das Christkind nicht in der Lage war, die Geschenke selbst zu bezahlen, wozu dann der ganze Aufwand mit dem Wunschzettel, den der Großvater uns jedes Jahr am Nikolaustag zu schreiben half?
In diesem Jahr hatte ich den Wunschzettel selbst geschrieben.
Neben meinem Weihnachtsteller lag ein Pullover, Perlmuster und erikafarben wie die alte Jacke der Tante, die das Christkind am ersten Advent bei ihr abgeholt hatte. Quer über die Brust lief ein blaues Band mit weißen, springenden Hirschen und Tannenbäumen. Einen solchen Pullover hatte ich mir schon lange gewünscht. Heute würdigte ich ihn kaum eines Blickes. Denn in diesem Jahr hatte das Christkind nicht bei Botts Unterwäsche haltgemacht, sondern war zwei Häuser weitergeflogen. Zwischen Socken und Lammfellsohlen, Winterstiefeln, in die ich noch hineinwachsen mußte, lag das dicke Märchenbuch aus Kaisers Schaufenster.
Föhl ens, fühl mal, sagte ich zum Bruder, zum Großvater und führte ihre Hand über den glatten, glänzenden Umschlag, wie ene Prinzessinnesteen. Ich schlug das Buch nicht auf, herrschte den Bruder an, als der mit seinen ungeschickten Händen zwischen die Seiten fahren wollte. Streichelte den Einband wie ein Schoßtier, viel fehlte nicht, ich hätte ihm Koseworte zugemurmelt.
Bis zum nächsten Tag schleppte ich das Buch mit mir herum, ohne es einmal zu öffnen. Als ginge mit dem Geöffnetwerden sein Zauber verloren, als tropfe sein Inhalt heraus wie Goldstücke aus einem geschlitzten Sack, als wäre das erste Aufblättern wie der erste Biß in ein Stück Brot, das, einmal angerührt, alsbald aufgezehrt ist. Dann, als am zweiten Weihnachtstag nach einer ausgiebigen Mahlzeit alles schlief, wusch ich mir am Spülstein die Hände und schlich mit dem Buch aus der warmen Küche vor die Speichertreppe. Stellte mich gerade hin, hielt das Buch auf beiden Handtellern, beugte mich darüber und küßte es wie der Pastor das Meßbuch am Altar. Dann schlug ich es auf. Und war verärgert. Mein Blick fiel auf einen Vierfarbdruck, goldlockig Dornröschen, rosa im rot-weißen Dornengehege, soeben erwachend, vor ihr auf den Knien der hellblaue Prinz. Ich mochte Bilder in Büchern nicht. Meine Schneewittchen, Rotkäppchen, Hexen und Feen, Zwerge und Riesen sahen alle anders aus. Bilder nahmen den Buchstaben bloß den Platz weg. Ich schlug den Band zu, fuhr mit den Fingern zwischen die Seiten wie der Katze durchs Fell, schlug ihn ganz vorn wieder auf.
An diesem Tag las ich nur das Inhaltsverzeichnis, las es wieder und wieder. Mit der gleichen ruhigen Lust, mit der ein Bauer die gefüllte Scheuer, der König seinen Schatz, die Hausfrau die Vorratskammer betrachtet, musterte ich die Versammlung der Überschriften. Berauschte mich an den Verheißungen der Titel wie der Hungrige am Duft der Speisen, über die er sich jederzeit hermachen kann. Einige Titel lockten mit Versprechungen, andere nickten mir zu wie alte Freunde oder flüchtige Bekannte, Rotkäppchen und Schneewittchen, Aschenputtel und Dornröschen, der Froschkönig, König Drosselbart, Schneeweißchen und Rosenrot, Hänsel und Gretel, das tapfere Schneiderlein, Frau Holle, Rumpelstilzchen. Ich geriet aus dem Häuschen, als ich merkte, wen alles ich hier wiederentdeckte, alle, von denen ich bislang nur gehört hatte, konnte ich nun, wann immer ich wollte, mit den Augen besuchen; konnte mir aussuchen, zu wem es mich gerade hinzog, zur armen Müllerstochter oder zur Königin, zu den Riesen oder den Zwergen, zu Menschen, Hexen oder Feen.
Erst am nächsten Tag wählte ich ein Märchen aus, nicht ohne mir vorher wieder die Hände zu waschen, als ginge es zu Besuch bei der Frau Bürgermeister. >Brüderchen und Schwesterchen< schlug ich auf, eines der letzten, die uns Aniana im Kindergarten vorgelesen hatte. Ich hatte es nur dieses eine Mal gehört, aber die traurigen Verse der Märchenmutter klangen mir
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