Das verborgene Wort
noch im Ohr. >Was macht mein Kind? Was macht mein Reh? Nun komm ich noch einmal und dann nimmermehr.< Tagelang hatte ich diese Zeilen vor mich hin gemurmelt, besonders das Wort >nimmer- mehr< hatte es mir angetan; jedesmal zog sich mein Herz bei dem schneidenden >nimmer< scharf zusammen, um sich im >mehr< dann wieder in einer vagen Hoffnung zu weiten.
Nun las ich das ganze Märchen Wort für Wort, leckte es Silbe für Silbe von den Seiten, es schmeckte süß und bitter, so wie der Hasenbraten, den wir einmal im Jahr mit Kompott aus schwarzen Johannisbeeren aßen. Mit dem Hasen wurde die Mutter vom Bauer Karrenbroich für die Pflege des Grabes seiner Eltern bezahlt. Manchmal biß man auf eine Schrotkugel, dann sagte der Vater >Verdammisch<, der Großvater >Waidmannsheil< und die Großmutter >Jelobt sei Jesus Christus<.
Von den Buchsteinen hatte ich immer nur Wörter gelesen, dieich schon kannte; hier traf ich auf Wörter, die ich noch nie gehört hatte und die mir dennoch gleich vertraut waren. Auch im Heiligenbuch hatte ich solche Wörter getroffen, aber wenig Gefallen an ihnen gefunden, >Märtyrer< oder >Verlies<, >Schergen<, >Folter<, >Scheiterhaufen<. Im Märchen von Brüderchen und Schwesterchen fand ich ein »goldenes Strumpfbands ein >Hüfthorn<, >Jagdlist< und >Badstube<. >Nimmermehr<.
Abends erzählte ich das Märchen dem Bruder, und am nächsten Morgen spielten wir es; wie brach mir das Schwesterherz, wenn ich an Bertrams Bett schlich, ihm übers Gesicht strich und meine Nimmermehr-Sprüche murmelte; wie verbleuten wir das böse Stiefmutterkopfkissen, bis das Rehlein wieder ein Bruder war.
Wir spielten sie alle; waren abwechselnd wütend und traurig, grausam und milde, wir küßten und wurden geküßt, köpften und wurden geköpft, sprachen und hörten zu, starben und wurden wieder geboren.
Auf die Märchen konnte man sich verlassen wie auf die Grammatik. Dort gab es falsch und richtig, hier gab es gut und böse. Gut wurde belohnt, böse bestraft. Vorübergehend schienen die Bösen kraft ihrer Tücke zu obsiegen. Das machte die Märchen spannend. Doch am Ende zogen die Schlechten immer den kürzeren, wurden bestraft, ohne Erbarmen, aber gerecht. Besonders gefiel mir, wenn sich die Bösewichte ahnungslos ihr Urteil selbst sprachen, sich die böse Stiefmutter selbst zum Tod in einem mit Nägeln gespickten Faß verurteilte.
Heilige hingegen konnten noch so gut sein, sie wurden geköpft, verbrannt, gevierteilt, geteert und gefedert, niemand fiel den Schergen im letzten Augenblick in den Arm. Gut, sie kamen in den Himmel. Aber dorthin kam selbst noch der größte Missetäter, wenn er seine Übeltaten in letzter Sekunde bereute. Durch Gottes Gnade eben. Gerecht war das nicht. Zudem schien mir ein Leben als Königin, glücklich bis ans Lebensende, weitaus erstrebenswerter als ein ewiges Leben im Himmelreich. Dafür mußte man erst einmal sterben. Sterben aber wollte niemand. Nicht im Leben und nicht in den Märchen. Nur Heilige.
Am liebsten waren mir Geschichten, in denen das richtige oder falsche Wort Schicksale entschied. Da hatte ein Geizigerdrei Wünsche frei; fluchte sein Pferd auf staubiger Landstraße zu Tode; schleppte sich alsdann mit dessen Sattel ab und wünschte seine Frau darauf; kommt nach Hause und muß sie vom Sattel hinunterwünschen. Drei Wünsche mit eins vertan. Wörter waren unauslöschlich, sie an die Luft zu setzen, mußte man vorsichtig sein.
Zauberworte mußte man wissen, damit Felsen sich öffneten, Steine zu Menschen wurden, Schwäne zu Brüdern; Schlaftränke wurden heimlich gereicht, damit das rechte Wort nicht ans rechte Ohr drang; Worte verhexten und erlösten, banden und befreiten. Welch eine Macht hatte ein einziges Wort, Macht über Leben und Tod. Besonders Namen.
Heißest du Kunz? lockte ich den Bruder. Nein, quietschte der. Heißest du Heinz? Nein. Heißest du Ziegenkacke, Misthaufen, Plumpsklo, Leberwurst? Worauf der Bruder immer empörter sein Nein, nein, nein schrie, bis ich ihn: Heißest du etwa Rumpelstilzchen? erlöste und der Bruder: Das hat dir der Teufel gesagt! brüllen und sich selbst mitten entzweireißen durfte. Dabei ruckte er sich einmal so heftig mit beiden Händen den linken Fuß vom Leib, daß Dr. Mickel seine gezerrte Leiste zu kurieren hatte.
Andere Märchen verachtete ich; etwa >Hans im Glück<, zu dumm, mit dem, was er hatte, etwas Vernünftiges anzufangen. Die maßlose Frau des Fischers oder den Mann, der seine drei Wünsche vertat. Unter dem
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