Das verborgene Wort
Siegel der Verschwiegenheit vertraute ich dem Bruder an, daß, sollte ich jemals drei Wünsche freihaben, ich mir als erstes unendlich viele Wünsche wünschen würde.
Weihnachten war längst vorüber, als Friedel mich nach einem Besuch bei der Großmutter beiseite nahm und mir ein Buch zusteckte. Es war abgegriffen, besonders an den Ecken, nicht sehr dick, dunkelblau, und erinnerte mich an Frau Peps. >Die kleine Meerjungfrau< stand in Goldbuchstaben auf dem Umschlag. Der kleingedruckte Männername interessierte mich nicht. Bücher waren wie Äpfel und Birnen. Daß sie gemacht, geschrieben wurden, kam mir nicht in den Sinn. Es gab sie einfach.
In meinem dicken Buch waren die Märchen kurz, höchstenszwei, drei Seiten lang. >Die kleine Meerjungfrau< nahm gar kein Ende. Ich grunzte vor Behagen. Auch fiel die Geschichte nicht gleich mit der Tür ins Haus wie die anderen Märchen, sondern ließ es langsam angehen, so, wie auch der Großvater weit ausholte, wenn er uns aus den Buchsteinen vorlas. Mit Pflanzen begann das Märchen von der kleinen Meerjungfrau, Pflanzen, die unter Wasser wuchsen, so biegsam, daß sie sich bei jeder Bewegung des Wassers rührten, als wären sie lebendig. Ob man hier nicht wußte, was der Großvater uns so oft gezeigt hatte, daß diese Pflanzen nichts anderes waren als der Bart des Wassermannes? Dann aber tauchte die kleine Meerjungfrau auf, schweigsam und gedankenversunken, und ich war ihr sofort verfallen, wie keiner Märchengestalt jemals zuvor. Das Reich tief in der See, das sie mit ihren fünf Schwestern teilte, bot Geborgenheit, Reichtum, Schönheit, doch sie wollte auf die Erde, ans Licht, verzehrte sich nach der Sonne, die nur als purpurnes Glühen zu ihr drang. Und sie verlangte nach Menschen, die sie von weit unten auf bunt beleuchteten Schiffen in all ihrem Glanz erahnte. Dann, als das Meermädchen, namenlos wie seine Schwestern, an seinem fünfzehnten Geburtstag zum ersten Mal aus dem Wasser auf die Erde schauen darf, rettet sie einen jungen Prinzen vorm Ertrinken. Danach hat sie nur noch einen Wunsch: Sie möchte Beine haben, um den geliebten Prinzen zu gewinnen. Daß sie auch eine unsterbliche Seele gewinnen werde, allerdings nur als Drein- gabe, sobald ein irdischer Mann sie zu seiner Ehefrau machte, nahm ich hin; es erinnerte mich zu sehr an die Heiligengeschichten. Wichtig war der Prinz, war die Liebe. Waren die Beine.
Doch als Preis für die Beine verliert sie ihre Stimme, die schönste Stimme im Meer und auf Erden. Die Meerhexe schneidet ihr die Zunge ab. Derlei schreckliche Dinge war ich aus dem Heiligenbuch und meinen Märchen gewohnt. Ich genoß jede gräßliche auch als köstliche Überraschung: Wußte ich doch, daß alles zu einem guten Ende führte. Hier aber wollte sich das Schicksal seitenlang nicht zum Guten wenden. Die Meerjungfrau wird die liebste Gefährtin des Prinzen, aber sie zu seiner Königin zu machen kommt ihm nicht in den Sinn. Sie hingegen hat keine Möglichkeit, ihm zu erzählen, daß sie es war, die ihn aus dem Wrack gerettet hat. Statt dessen liebt er das Mädchen, das ihn am Strandgefunden hat und das er für seine Retterin hält. Dieses Mädchen, für immer in einen Tempel eingeschlossen, scheint keine Gefahr, das gute Ende immer noch möglich. Da erfährt die Meerjungfrau von der bevorstehenden Hochzeit mit ebendiesem Mädchen. Sie, als liebste Freundin des Prinzen, soll bei der Hochzeit zugleich mit der Braut an seiner Seite sein. Jetzt, jetzt endlich mußte das Blatt sich doch wenden! Aber kein Wassermann hob sein Haupt aus den Wellen und brachte der Meerjungfrau die Zunge, die Stimme zurück. >Oh, wenn er nur wüßte, daß ich für immer meine Stimme weggab, um bei ihm zu sein.< Keine Möwe kreischte, kein Sturmwind blies dem Prinzen die wahre Geschichte ins Ohr. Ich litt. Ich faßte es nicht. Bis mich die rettende Idee von meinem Fußbänkchen hochjagte. Schreiben! schrie ich, daß die Hühner auseinanderstoben. Schreiben mußte das Meermädchen! Ja, sie mußte lesen und schreiben lernen, ihrem Prinzen einen Brief schreiben, in dem sie alles erklären, die Geschichte entwirren und für ihrer beider glückliche Zukunft sorgen konnte. Doch hatte ich in einem Märchen jemals von Lesen und Schreiben gehört? Sprechen, ja, sprechen konnten alle, Stein und Blatt, Maus und Vogel, Löwen und Drachen, Blutstropfen und Pferdekopf, Fisch und Schlange. Aber lesen und schreiben? Die Meerjungfrau war verloren. In der Tat heiratet der Prinz am andern Tag
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