Das verborgene Wort
die andere, und das Meermädchen zerfällt zu Schaum auf den Wellen. Was ihr blieb, war die Aussicht auf eine unsterbliche Seele, da sie so viel gelitten hatte. Wie im Heiligenbuch. Es tröstete mich nicht. Einen Prinzen und ein Königreich konnte ich mir vorstellen. Was aber war eine unsterbliche Seele? Und vor allem: Was nützte sie ohne eine Stimme, sie auszudrücken?
Wie gut war es, lesen und schreiben zu können! Lange Zeit prüfte ich jede Geschichte, ob und wie sie sich verändert hätte, wären die Personen des Lesens und Schreibens kundig gewesen. Doch da alles sprechen konnte, hatten die Menschen diese Kunst nicht nötig. Vielleicht mußten sie lesen und schreiben lernen, als sie die Sprache des Himmels und der Erde nicht mehr verstanden. Nur Hänsel und Gretel, dachte ich, hätten ein paar Notizen sicher geholfen, den Weg zurück nach Hause zu finden. Aber dann lockte die Hexe ja heut noch Kinder in ihr Knusperhaus, um sie zu mästen und zu fressen.Treckt ösch an, zieht euch an, befahl die Mutter meinem Bruder und mir, mer besöke dat Unkelbachs Heinzje. Ich fiel aus allen Wolken. Fremde Familien besuchten wir nie, nur Verwandtschaft. Was um aller Welt hatte ausgerechnet ich bei diesem wabbligen Kerl, den keiner leiden mochte, zu suchen? Die Mutter fackelte nicht lange. Die han us enjelade. Die jävve jedet Johr fuffzisch Mark für dä Missionsverein. Do jonn mer hin, dat jehöt sesch so. Esch breng ösch do hin un hol ösch widder äff. Un dat de desch benimms, un paß op de Jong op. Mehrmals im Jahr richteten Heinzchens Eltern prächtige Feste für ihren Einzigen aus, einen dicklichen, weißhäutigen Jungen ohne Freunde. Doch jedesmal ließen ihn die Gäste, nachdem sie sich mit Kuchen und Wurstbroten vollgestopft hatten, wieder links liegen bis zur nächsten Völlerei.
Bei Unkelbachs roch es nach fettem Kuchen und Kakao. Im Kinderzimmer drängte man sich um die elektrische Eisenbahn. Zwei Mädchen, die ich auf der evangelischen Seite vom Schulhof schon mal gesehen hatte, standen am Fenster, schielten zu mir herüber und tuschelten miteinander. Ihre dünnen Zöpfe waren zu Affenschaukeln gebogen, und sie trugen gesmokte Hahnentrittkleider, Hängerchen. Meine braunen gestopften Wollstrümpfe unterm blauen Faltenrock kratzten.
Neben dem Fenster hing ein dreistufiges, treppenförmig ansteigendes Bücherregal, drei helle Bretter, von einem schwarzen Metallgestänge gehalten, fast voll. Eine größere Ansammlung von Büchern hatte ich bislang nur bei der alten Bürgermeisterswitwe gesehen. Dort standen die Bücher in einem herrschaftlichen Schrank hinter Glastüren. Daß ein so gewöhnliches Kind wie dieses Heinzchen Unkelbach einen derartigen Schatz angehäuft hatte, den es noch dazu wegen einer läppischen Eisenbahn für nichts erachtete, empörte mich. Doch ehe ich mich dem Regal widmen konnte, wurden wir an die Kaffeetafel gerufen.
Auch hier gab es Bücherregale. Sie hingen, treppenförmig wie bei Heinzchen, fünf- und siebenstufig neben dem Wohnzimmerschrank, zeigten Bücher und Vasen mit Erika und vergoldetem Hafer, Tänzerinnen und Schäfer aus Porzellan, Fotografien von Männern in Uniform, silbergerahmt, mit schwarzen Seidenbändern. Die Buchtitel konnte ich nicht lesen. Ein Tischkärtchenhatte mich mit dem Rücken zum Regal neben den Gastgeber gesetzt, der virtuos ein Kuchenteil nach dem anderen in seinem Mund versenkte. Unaufhaltsam stieß seine Gabel in die süßen Massen, einmal, zweimal, dreimal, und die Torte war weg. Heinzchen merkte, daß ich vor Staunen über seine Gefräßigkeit das eigene Stück fast vergaß, und verdoppelte die Geschwindigkeit der Gabelhiebe, ließ die Kaubewegungen weg und schluckte die Happen hinunter wie die Schlange kleines Getier. Schweiß trat ihm auf die Stirn, helle Röte stieg in seine glatten Backen. Ich sehnte mich nach einem Schinkenbrot.
Während die Mädchen im Hängerchen der Hausfrau halfen, den Tisch abzudecken, und die anderen mit der elektrischen Eisenbahn spielten, ging ich gierig die Bestände des Regals im Kinderzimmer durch. Ganz oben standen Bilderbücher. Sie interessierten mich nicht. Darunter glänzten in steifen abwaschbaren Einbänden Indianer- und Abenteuergeschichten, Fotobände über die Olympischen Spiele, den Rennfahrer Fangio, über Nurmi und Emil Zatopek. Die >Märchen aus Tausendundeiner Nacht< auf dem untersten Brett gab es gleich dreimal. Ich wunderte mich, warum man dasselbe Buch dreimal hinstellte, sah aber dann an den
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