Das verborgene Wort
weil ich es gestohlen hatte? War es von Sünde im Keim vergiftet wie wir Menschen? Hatte ich dem Großvater am Ende Erbsündewasser zu trinken gegeben? Konnte heiliges Wasser durch eine böse Tat in teuflische Brühe verwandelt werden? Hatte ich den Großvater am Ende dem Tod in die Klauen getrieben?
Ich beichtete ihm unter Tränen. In seinen matt gewordenen, wie von einem hauchdünnen Milchhäutchen überzogenen Augen blitzte es wie in alten Tagen, als er meine Hand in seine nahm, die dünn und weich geworden war.
Heldejaad, sagte er, denk doch ens an dat Fritzje. Mansche Minsche sin wies, angere schwaz. Mansche jesonk, angere krank. Dä leeve Jott wees, wat he det. Un sterve müsse mer all. Esch jlöv, dä leeve Jott well mesch bal em Himmel han.
Gut und schön. Aber warum so umständlich? Herrn Tröster hatte ein Ast erschlagen, Tante Margret im Krieg eine Bombe getroffen, Fräulein Höhnchen war eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht.
Aber das hier? Diese Schmerzen, dieser Geruch, als verwese der Großvater bei lebendigem Leib?
Warum der Großvater so sehr leiden müsse, fragte ich im nächsten Kommunionunterricht und ließ mir gesagt sein, daß Jesus die Leidenden brauche, wie sonst könnte er barmherzig sein.
Aufstehen, hieß es, wenn Lehrer Mohren das Klassenzimmer betrat. Guten Morgen, Kinder. Guten Morgen, Herr Lehrer. Wir übten, bis wir wie aus einem Munde antworten konnten. Schlugen das Kreuzzeichen, vierundfünfzig rechte Arme wie von unsichtbaren Fäden gezogen, und sprachen: >Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen.< Setzen, sagte der Lehrer. Zu spät kommen, flüstern, mit den Füßen scharren,seufzen, gähnen, aus dem Fenster glotzen, herumfummeln, selbst husten und niesen waren mit Eckestehen oder einer Ohrfeige auf der Stelle gesühnt. Schwere Strafen für schwere Verbrechen wie vergessene oder fehlerhafte Hausarbeiten, Widerworte, Patzigkeiten, Lügen wurden erst kurz vor Schluß der Schulstunde verabreicht, bei besonders schlimmen Vergehen bis zum Ende des Unterrichts aufgeschoben. Die Angst vor der ausstehenden Züchtigung und die Ächtung der Mitschüler, die den Missetäter mieden wie einen Pestkranken, waren fast schlimmer zu ertragen als die Schläge selbst, wenn sie denn endlich fielen.
Kurt Küppers hatte zum Namenstag einen Füller bekommen. Man steckte die Feder in ein Tintenfaß, drehte am hinteren Ende einen Kolben rauf und runter, saugte Tinte ein und konnte dann stundenlang schreiben, ohne einzutauchen. Der Füller steckte zusammen mit einem Vierfarbstift in einem grünen Ledermäppchen. In der ersten Pause war das Mäppchen von Hand zu Hand gegangen, und Sigrid, die mit ihrer roten Schleife im glatten braunen Haar aussah wie ein Schokoladenei, durfte ihn sogar aufschrauben und ihren Namen auf die letzte Seite in Kurt Küppers Rechenheft schreiben. Nach der zweiten Pause war das Mäppchen nicht mehr da.
Verdächtigt wurde Katti Kackaller. Sie saß in der letzten Bank, allein, und war ein Müpp. Nicht wie Irene und die anderen aus der kalten Heimat, die nichts dafür konnten, sondern ein eingeborener Müpp. Ihre Familie hauste mit einer unübersichtlichen Anzahl von Kindern in einer der Baracken, die während des Krieges für polnische Zwangsarbeiter zusammengezimmert worden waren. Lehrer machten Witze über die Kackallers, egal, ob sie anwesend waren oder nicht. Die letzte Drohung vor der Ohrfeige war, man werde enden wie ein Kackaller, wenn man so weitermache.
Katti Kackaller hatte aschblondes Haar, das in unregelmäßigen Stufungen irgendwo über den Ohren abgeschnitten war und vor Schmutz, Fett, Blättern und anderen kleinen Gegenständen starrte. Ihr Kleid verfleckt, der Saum halb offen, Knöpfe fehlten. Durch die löchrigen Strümpfe stachen spitze Knie. An den Füßen trug sie viel zu große Schuhe, die mit Zeitungspapier ausgestopft waren, das an den Rändern hervorquoll, wodurch ihr
Gang etwas Schleichendes annahm. Kattis Haltung war geduckt, eine Katze vor dem Sprung. Ihr Gesicht flach und breit, ihr Körper ein Paket aus Muskeln und Knochen. Einer wie ihr war alles zuzutrauen. Sie hatte das Mäppchen nicht.
Der Reihe nach mußten wir unsere Tornister vor Mohrens Augen ausleeren. Der Füller wurde gefunden unter der Bank von Rainer Ebersold.
Rainer zählte zu den größten Jungen der Klasse und war nur Haut und Knochen. Doch seine Gesichtszüge waren noch so weich wie im Kindergarten, und seine verhaltenen Bewegungen drückten vor allem
Weitere Kostenlose Bücher