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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Hemdkragen und zog ihn hoch. Die Lederhose rutschte zu Boden. Der Junge zitterte vor Anspannung, sich auf den Beinen zu halten.
    Und jetzt, zerschnitt die Stimme des Lehrers die Stille, entschuldigst du dich bei Kurt Küppers. Und damit soll es dann genug sein.
    Rainer schwieg. Seine Kiefer verkrampften sich, Muskelstränge traten hervor und machten das weiche Gesicht hölzern und hart.
    Bißchen dalli. Mohren stieß ihm den Zeigestock ins Kreuz. Einmal, zweimal, dreimal, so lange, bis der Junge in die Knie brach, sich zusammenkrümmte, den Kopf zwischen den Schultern auf der Brust, die Arme überm Kopf. Der Lehrer zog den Rock aus. Knöpfte die Weste auf und keuchte wie ein Tier, das schon eine große Strecke zurückgelegt hat. Er stank. Ich konnte den Schweiß auf seiner Oberlippe und unter seinen Achseln sehen. Sein Rücken im Griff einer Gewalt, größer als er. Mit einem Laut, als ginge ein lebendiger Knochen entzwei, zersplitterte der Zeigestock, Rainer nur streifend, am Fuß der Strafbank. Mohren brüllte.
    Ich weiß, was dir fehlt. Einem wie dir. Ich weiß, was du brauchst. Mohren zerrte an seinem Hosenbund. Mit einem bösen Zischlaut fuhr der Lederriemen aus dem körperwarmen Stoff in die Luft. Jetzt endlich gab Rainer wieder einen Laut von sich. Er winselte. Der Lehrer ließ den Gürtel pfeifen.
    Ich weiß, was dir fehlt. Dir fehlt der Vater. Der Vater. Der Vater.
    Nein! schrie ich. Nein! Mohren fiel der Gürtel aus der Hand. Alle starrten mich an. Da erst merkte ich, daß ich geschrien hatte. Mir war schlecht vor Angst. Das Gesicht des Lehrers dunkelviolett, die Mundwinkel weiß von Speichelblasen. Rainer, der sich unter den Schlägen von einem scheuen, gutmütigen Jungen in ein geschundenes, gescheuchtes Tier verwandelt hatte, kannte nur noch einen Instinkt, Flucht. Er kroch, gestützt auf beide Ellenbogen, die in der Lederhose gefesselten Beine hinter sich herziehend, zur Tür. Mohren stoppte ihn.
    Zieh dir die Hose hoch. Setz dich, sagte er, den Gürtel ungeschickt durch die Schlaufen seiner Hose nestelnd. Knöpfte die Weste zu. Zog den Rock wieder an. Wischte sich noch einmal die Stirn.
    Rainer kauerte wieder auf seinem Platz. Er sah grau aus und schien kleiner geworden, unter den Schlägen zu einem hölzernen Ding aus Haß und Verachtung geschrumpft. Auch Lehrer Mohren saß wieder hinter seinem Pult. Direkt vor mir. Er suchte meinen Blick. Ich fixierte die Füße Jesu am Kreuz, bemehlt von feinem Kreidestaub.
    Und jetzt zu dir, Hildegard, sagte der Lehrer. Du weißt doch. Dazwischenreden ist verboten. Steh auf.
    Seine Finger ergriffen mein Ohrläppchen, ruckten mit einem energischen Zug meinen Kopf in Richtung Schulter, so daß meine linke Wange sich seiner Rechten bequem darbot. Der Lehrer benutzte, anders als der Vater, der vornehmlich die Handballen einsetzte, die ganze Handfläche, alle fünf Finger, gestreckt und leicht gespreizt. Sichtbar für Stunden, brannte das strahlenförmige Mal auf der Haut.
    Das vierte Schuljahr ging zu Ende, da sagte Mohren noch einmal Steh auf! zu mir.
    Die Märzsonne machte den winterharten Boden jeden Tag einbißchen weicher, die Knospen der Weiden hatten hier und da schon ihre Kapseln abgeworfen und zeigten die ersten Kätzchen. In früheren Jahren waren wir um diese Zeit mit dem Großvater aufgebrochen zu unserem ersten großen Gang an den Rhein, wo das Eiswasser noch in den Wiesen stand und die dürren Binsen im Wind sich aneinanderrieben wie kalte Füße. Aber der Großvater lag jetzt die meiste Zeit des Tages im Bett, und der Doktor zuckte noch immer die Achseln und drehte die Augen zur Zimmerdecke.
    Lehrer Mohren hatte uns eine Klassenarbeit zurückgegeben, eine Nacherzählung. Vater und Sohn sitzen am Tisch beim Essen. Abseits in einer Ecke löffelt der Großvater unbeholfen seinen Brei aus einem Holzschälchen. Später sieht der Vater seinen Sohn schnitzen und fragt ihn, was er da mache. Ein Schälchen für dich, wenn du einmal so alt bist wie der Großvater und nicht mehr richtig essen kannst. Da bereut der Vater, daß er seinen alten Vater vom Tisch verstoßen hat, und holt ihn zurück.
    Alle Hefte bis auf das meinige waren verteilt. Mohren hatte die Gewohnheit, mal bei den guten, mal den schlechten Noten zu beginnen. Diesmal, das konnte man dem freudigen Getuschel der zuerst Aufgerufenen entnehmen, hatte er bei den guten begonnen.
    Und nun zum letzten Heft. Hildegard Palm. Ich wollte aufstehen, aber Mohren bedeutete mir, sitzen zu bleiben, und las vor. Ich

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