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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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eines aus: das Bestreben, nicht aufzufallen. Er war ein mittelmäßiger Schüler, weder sonderlich beliebt noch mißachtet. Auch Rainer war ein Müpp. Aber aus der kalten Heimat. Sein Vater gehörte zu den in Rußland Verschollenen. Er kannte ihn nur bis zur Brust, in der Uniform eines Panzergrenadiers, Postkartenformat im Silberrahmen.
    Seit Jahren trug Rainer Ebersold eine Lederhose, in die er allmählich hineinwuchs. Sie hatte zur großen Überraschung seiner Mutter in einem Paket gelegen, dem einzigen, das je aus der Heimat zu ihnen gelangt war, mit einem Brief seiner Großmutter: Sein Vater habe diese Hose schon getragen, und daß sie ihm Glück bringen solle.
    Ebersold, Rainer. Die Vertauschung von Vor- und Nachnamen signalisierte höchste Alarmstufe. Der Lehrer klemmte sich, die Beine leicht gespreizt, beide Daumen in die Achselhöhlen unter die Ränder seiner Weste. Heute trug er den braunen Anzug, was seinem Gesicht stets einen Stich ins Safrangelbe gab.
    Steh auf.
    Rainer blieb sitzen. Bleich wie die Kreide an der Tafel.
    Aber Herr Lehrer...
    Schweig. Aufstehen, sag ich.
    Rainer erhob sich. Es war Montag, und er hatte das weiße Hemd vom Sonntag noch einmal anziehen dürfen. Zwischen den Hosenträgern lief ein rotes Band, bestickt mit weißen, fliehenden Hirschen, über seine Brust.
    Ich...
    Schweig.
    Und jetzt sagst du, wie das hier, der Lehrer fuchtelte mit dem
    Fülleretui herum, als wolle er es zum Leben erwecken, in deinen Tornister gekommen ist.
    Ich, ich ... in meinem Tornister war es doch gar nicht. Und wie es unter meine Bank gekommen ist, weiß ich nicht.
    Schweig! rief Mohren zum dritten Mal. Du lügst.
    Der Junge machte eine abwehrende Bewegung. Nein, Herr Lehrer, nein, ich lüge nicht. Ich hab das Mäppchen nicht genommen, nein.
    Nein?! Der Lehrer dehnte die Silbe zu einem Sirenenton. Nein? Dann erkläre mir bitte, wie es da hingekommen ist. So etwa? Er faßte die Verschlußlasche des Etuis und ließ das Ding mit Schwung auf Rainers Ohr prallen.
    Kurt Küppers schrie auf in Angst um die Füllfeder. Rainer rührte sich nicht. Sein Kopf, ein wenig zu groß und zu rund für den eckigen Körper, begann kaum merklich nach rechts und links auszuschlagen wie der Zeiger einer Waage.
    Küppers, rief der Lehrer, hepp, und entledigte sich des Mäppchens mit einem gezielten Wurf in Richtung des Besitzers, der sein Eigentum geschickt auffing und es eben einer nachdrücklichen Prüfung unterziehen wollte, als Mohren ihm und seinem Nachbarn befahl, die erste Bank zu räumen.
    Ebersold nach vorn.
    Der Junge blieb stehen. Mohren schleppte ihn am Ohr durch den Klassenraum, stieß ihn auf die Bank, den Kopf nach unten, so daß seine Beine hinten in der Luft hingen.
    Der Lehrer nahm den Zeigestock aus der Ecke neben der Landkarte; der dünnere lag bei der Kreide unter der Tafel. Dann knöpfte er dem Jungen die Hosenträger ab und zerrte die Hose an beiden Beinen bis zu den Knien herunter, wobei sich Rainers Unterleib unwillkürlich von der Bank hob, wie um die Prozedur zu erleichtern.
    Wir alle konnten den kleinen Hintern in der verwaschenen, graublauen Baumwollunterhose sehen, der sich vor Angst und Scham zusammenkrampfte. Sigrid Gerschermann, die mit dem Füller ihren Namen hatte schreiben dürfen, schluckte laut.
    Sonst ließ der Lehrer den Stock einmal, zweimal durch die Luft pfeifen, bevor er zuschlug, schmunzelnd: Unverhofft kommt oft. Heute aber traf gleich der erste Hieb sein Ziel.
    Siebentes Gebot, skandierte er, du sollst nicht stehlen. Siebentes Gebot, du sollst nicht stehlen.
    Kirschrot glühten seine Wangen aus dem gelben Gesicht, die Lippen sprühten Speichel. Rainer aber nahm seine Strafe nicht, wie es sich gehörte, schweigend entgegen. Vielmehr ließ er nicht ab, seine Unschuld zu beteuern, ja, er rief sogar Gott und den heiligen Antonius um Hilfe an, daß sie seine Unschuld bezeugen möchten. Mohren schien dies alles nur noch mehr zu reizen.
    Du sollst nicht stehlen, siebentes Gebot. Dir werd ich's zeigen, siebentes Gebot. Du sollst nicht stehlen, siebentes Gebot. Dieb, Dieb, Dieb.
    Rainers Stimme wurde dünner, blieb aber fest bei seinem hochdeutschen Nein, das er, atemringend, keuchend, aber unerschütterlich hervorstieß. Die Schläge fielen jetzt schneller, als Mohren sprechen konnte. Stimme und Stock machten sich selbständig. Gestern noch hatte der Lehrer ein Gedicht von Wilhelm Wackernagel erklärt.
    Er hielt inne. Wischte sich die Stirn. Mit einem Ruck packte er den Gezüchtigten am

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