Das verborgene Wort
meinem Kopf kreisten vom Aufwachen bis zum Einschlafen Gebete. Als Kommunionkind war ich in einembesonders hohen Stand der heiligmachenden Gnade. Ein Tempel des heiligen Geistes war ich.
Dr. Mickel kehrte weiterhin Hände und Augen gen Himmel, wenn er vom Großvater kam. Ich besprach die Sache mit dem Bruder. Der half beten und stellte ebenfalls das Sündigen ein. Allein, der Großvater wollte nicht wieder auf die Beine kommen. Fast hätte ich aufgegeben und dem Bruder wieder Fleisch vom Teller geschnappt, als Frau Meuten ein Buch in die Borromäusbibliothek zurückbrachte, das ich gleich beiseite legte. Der Einband zeigte eine Muttergottes. In weißem Gewand mit blauer Schärpe und einem Krönchen. Sie kam aus Frankreich, stand auf der Rückseite, aus Lourdes. Dort war sie einem Mädchen erschienen und hatte eine Quelle sprudeln lassen. Die Quelle konnte heilen.
Ein Fingerzeig Gottes. Geweihtes Wasser brauchte ich. Damit würde ich unseren Gebeten zum Durchbruch verhelfen. An Wasser aus Lourdes war nicht zu denken. Dondorfer Weihwasser mußte genügen. Noch am gleichen Tag stahl ich mich nach der Schule in die Kirche und tauchte eine kleine Flasche - Liebesperlen von der letzten Kirmes waren darin gewesen - ins Weihwasserbecken, der Bruder füllte sein Marmeladenglas, mit dem er sonst am Rhein Kaulquappen fing.
In den nächsten Tagen gab es für den Großvater keine Brühe, kein Püree, keinen Tee ohne ein paar Tropfen Weihwasser. Weihwasser, über dem der Bruder und ich hinterm Hühnerstall zur Verstärkung ausgiebig Gebete gesprochen und Kreuzzeichen geschlagen hatten, so, wie wir es vom Pastor am Altar kannten. Der Großvater siechte weiter. Ich erhöhte die Dosis. Ohne Erfolg. Das Dondorfer Weihwasser war zu schwach. Der Bruder ging wieder Kaulquappen fangen. Ich nannte den Vater im stillen wieder ne fiese Möpp. Da brachte ich der Mutter zuliebe Resi Pihl das Monatsblatt vom Frauenverein, als letzte gute Tat. Ihre Tochter Hannelore saß in der Schule neben mir. Im Flur der Wohnung stand auf der Kommode neben Kruzifix und Öllämpchen eine Madonna in weißem Gewand mit breiter blauer Schärpe und Krönchen. Diese Muttergottes, so Frau Pihl, habe ihr dat Schmitze Billa aus Lurdäs mitgebracht. Lur ens, sagte sie, ergriff die Figur, packte den Kopf und schraubte ihn ab. Schüttelte die kopflose Heilige. Es gluckste. Jeweihtes Wasser, frohlockte sie.
Jejen mein Ekzem. Lur ens hie. Sie schraubte den Kopf wieder auf, stellte die Figur behutsam zurück, schob die Ärmel hoch und zeigte mir ihre Unterarme. Haut, dünn wie Pergament, von roten Streifen durchzogen, blutig. Dat jöck wie verröck, sagte sie und fuhr ein paarmal mit den Fingernägeln über ihre Haut, die aufstob wie feiner Sand und auf Tischtuch und Kuchen rieselte. Ävver ansteckend is et nit, sät dä Mickel. Loß et der schmecke.
Am nächsten Tag nahm ich Hannelores Rechenbuch mit nach Hause und brachte es ihr mit dem Bruder zurück. Kaum dort, fing er wie verabredet im Hof zu schreien an. Alle stürzten hinaus, ich schraubte der Figur den Kopf ab, goß das heilige Wasser in mein Liebesperlenfläschchen, füllte die Muttergottes mit Kranenwasser auf und nahm den Bruder bei der Hand.
Drei Tage lang wurde das Madonnenwasser von uns bebetet und bekreuzigt. Dann setzten wir alles auf eine Karte. Das ganze heilige Wasser auf einmal schüttete ich dem Großvater ins Glas für seine Tabletten.
Der Großvater schluckte die Tabletten hinunter, nippte an dem Glas und verzog das Gesicht.
Opa, trink aus, bettelte ich.
Trink, Opa, echote der Bruder.
Nä, Kenger, dat schmeck nit. Dat schmeck jo wie ahle Schoh. Un de Tablette sin jo och ald em Mage.
Opa, du muß dat drenke.
Jo, Opa, drenk.
Die Großmutter trat dazwischen.
Wat quäls de dann dä Opa met dem Wasser? Jank, un hol em e Jläsje Appelsaff.
Die Großmutter griff das Wasserglas vom Nachttisch und goß es im hohen Bogen aus dem Fenster in den Rhabarber.
Oma, schrie ich, dat Wasser.
Dat Wasser, schrie der Bruder.
Wat es dann jitz ald widder los, fauchte sie. Wat soll et dann sons sin wie Wasser. Joht spille. Sunne Kokolores, un dat bei nem Kummelejonskenk [34] !
Das ganze Jahr über ließ ich den Rhabarber nicht aus den Au-gen; er gedieh wie immer in überwältigenden Mengen. Pihls Resi schwor weiterhin auf ihr Muttergottesfläschchen. Am besten, sagte sie, wirke es mit einem Eßlöffel Klosterfrau Melissengeist oder einem Klaren.
Ich aber war untröstlich. Hatte das Wasser nicht gewirkt,
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