Das verborgene Wort
hatte die Geschichte richtig wiedergegeben, wie immer mit einigen Ausschmückungen. Dann aber sagte mein Kind zu seinem Vater: Vielleicht hat der Großvater auch nichts Besseres verdient. Vielleicht ist er zu dir so bös gewesen wie du zu mir, wie du noch klein warst. Der Lehrer schloß mein Heft. Die Klasse wartete. Eine Fliege, die den Winter in den warmen Räumen überstanden hatte, flog in sinnlosen Kurven immer wieder gegen die Fensterscheiben.
Was hast du dir dabei gedacht, Hildegard?
Dat dä Jroßvater seinen Sohn oft verhauen hat, wie der klein war. Und jetzt ist der jroß und der Jroßvater alt und kann sisch nit wehren. Da krischt der ne Straf. Dä hät dat verdient. Der war nit lieb zu seinem Kind, wie dat klein war.
Hildegard, sagte Mohren, woher willst du das wissen?
Ein paar Kinder lachten. Mir war heiß. Das Leibchen kratzte, die Wollstrümpfe auch. Ich schluckte. Begriff nicht, warum ich es nicht wußte, wo ich doch sonst so gern Fragen und Antworten spielte. Diesmal versagte ich. Warum hatte ich diese Sätze geschrieben? Ich wußte doch, daß der Lehrer es so nicht vorgelesen hatte.
Nun, Hildegard, für diese Arbeit bekommst du keine Zensur. Das nächste Mal hältst du dich an das Vorgelesene. In einem Aufsatz kannst du ja schreiben, was dir einfällt.
Lehrer Mohren sah auf die Uhr. Der Vormittag ging zu Ende. Bald würde es klingeln. Draußen auf der Straße lärmten die I- Dötzchen, die Erstkläßler. Und nun, sagte Mohren, stehen alle auf, die nach dem Zeugnis in sechs Wochen auf eine höhere Schule gehen. Die Jungen zuerst.
Kurt Küppers stand als erster auf, dann Rainer Ebersold, Werner Kracht, andere folgten. An der Art und Weise, wie sie aus den Bänken traten, war abzulesen, welchen Platz im Leben zu beanspruchen sie bereits gelernt hatten, welchen Platz das Elternhaus ihnen fraglos reservierte. Zuletzt erhob sich in der letzten Bank, polternd und aus tiefem Magen rülpsend, Jo Kackaller. Er war ein älterer Bruder Kattis, die die dritte Klasse hatte wiederholen müssen. Da es so viele Kackallersprößlinge gab, saß in jeder der acht Volksschulklassen mindestens ein Vertreter dieser fruchtbaren Sippe, immer um einiges älter als der Klassendurchschnitt.
Mohren winkte müde ab. Dich werden wir auch los, sagte er. Aber anders. Noch eine Ehrenrunde und dann Abmarsch. Jo Kackaller war dann vierzehn und hatte die Schule acht Jahre lang besucht.
Statt einer Antwort, die auch niemand erwartete, rülpste er ein zweites Mal und lümmelte sich wieder auf seinen Platz.
Und jetzt die Mädchen, sagte Mohren. Sigrid Gerschermann stand auf und Christiane Huppert, eine blutarme Rothaarige mit Augen, die so schläfrig blickten, als wollten sie sich in der nächsten Sekunde für immer schließen. Sie war, wohl aufgrund dieser Schläfrigkeit, ein außerordentlich braves Kind, hatte aber im letzten Jahr nur mit knapper Not die Versetzung geschafft.
Christiane, du? entfuhr es Mohren, als sich ihr dicklicher Kör-per träge aus der Bank wand. Natürlich. Der Lehrer schlug sich an die Stirn. Christiane war die Tochter eines Kollegen.
Lieselotte Lanzen stand auf, die Nichte des Rübenkrautfabrikanten. Lieselottes Hausaufgaben waren vorzüglich, die Klassenarbeiten schlecht. Mechthild Kluck, das vierte Mädchen, war tüchtig. Ihr gönnte ich, daß sie stand. Es klingelte. Einpacken.
Ein paar Minuten noch, Kinder, sagte Mohren. Hildegard, steh auf.
Ich blieb sitzen. Sah den Lehrer an.
Steh auf, Hildegard, kannst du nicht hören.
Ich rutschte aus der Bank. An Wunder glaubte ich kaum noch, nicht einmal mehr, wenn ich von ihnen las. Seit dem Fehlschlag mit den geweihten Wassern hatte ich auch von ihnen genug. Ich bevorzugte nun wieder Detektivgeschichten mit ihrer klaren Verteilung von Gut und Böse, Recht und Gerechtigkeit, Sünde, Strafe und Sühne, eine naturgemäße Ergänzung zum Beichtspiegel. So konnte ich auf einem Namenstag bei der Patentante an deren Kaffeetisch sitzen, um mich herum das Getöse der von Likören und Schnäpsen angefeuerten Stimmen, das Kreischen der Frauen, das Gebell der Männer. Vor meinen Augen aber die Bestie von Baskerville, ein Froschmann in der Themse, eine Kutte im flackernden Kerzenschein; in meinen Ohren das Baldowern von Ganoven, der Schrei des Opfers, des Inspektors Stimme.
Hildegard, sagte der Lehrer, ich habe dich etwas gefragt.
Ich hatte nichts gehört. Die Klasse wurde unruhig. Alle wollten nach Hause. Ich schreckte zusammen.
Nä, sagte ich.
Du bleibst
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