Das verborgene Wort
las, mit Augen, Mund und Ohren, desto inniger verschmolzen sie mit mir, bis ich sie sprach, als kämen sie nicht nur von meinen Lippen, sondern aus meinem eigenen Herzen.
Da zeigte ich bei Fräulein Abendgold wieder auf. Es war noch immer heiß, und ich trug noch immer das Kleid mit den hellblauen Windmühlen, aber diesmal war es der Knabe im Gedicht, der in Schweiß ausbrach, nicht ich. Ich ließ es rascheln und sausen, zittern und jagen, rennen, sich ducken, rieseln und knistern, genoß jede Silbe, jeden Laut, genoß, wie mir die Zunge gehorchte, der Atem und was sie miteinander hervorbrachten in diesem kreidetrockenen Klassenzimmer, das Moor, die Heide, die weite Welt, ihr Grauen und ihre Bedrohung.
Nach der Stunde rief die Lehrerin mich zu sich. Wie ich das fertiggebracht habe, wollte sie wissen. Es ging ihr wohl darum zu prüfen, ob meine Aussprache auch einer gewöhnlichen Unterhaltung standhielt. Kannst du die Schrift lesen, fragte sie und zog ein beigefarbenes Heftchen, nicht größer als das für die Rabattmarken von Piepers Laden, aus ihrer Aktentasche, Annette von Droste-Hülshoff: >Gesammelte Gedichtes Reclam Verlag, las ich, ohne zu stocken. Buchstaben wie diese kannte ich längst aus dem Heiligenbuch. Das ist für dich, sagte Fräulein Abendgold. Du hast uns heute allen eine große Freude gemacht. Besonders mir. Und ganz unter uns: In der vorletzten Zeile, da heißt es nicht: Spinnenlor, sondern Spinnlenor. Und jetzt ab nach Hause.
Draußen vor der Schule wartete Doris. Sie lud mich zu ihrem Geburtstag ein.
Ich bin mit den Hausaufgaben fertig und gehe jetzt mit Birgit spielen, sagte ich an diesem Nachmittag zur Mutter.
Wie kallst du? fauchte die zurück. Wat is dann en desch je- fahre?
Gar nichts Mama, ich bin jetzt fertig. Bis heute abend.
Mamm, rief die Mutter, kumm ens. Jitz es et övverjeschnapp! Waat, bes dä Papp no Hus kütt!
Abends lief die Mutter dem Vater schon am Gartentor entgegen, redete auf ihn ein, ich sah, wie er den Kopf schüttelte und beide hinterm Haus verschwanden.
In der Küche saßen sie um den Tisch wie zu Gericht. Der Bruder kaute schon verstohlen an seinem Butterbrot.
Lommer bäde, sagte die Großmutter und bekreuzigte sich. Kumm, Herr Jesus, sei unser Jast un seschne wat de uns bescheret has. Ich betete mit. In meinem reinen Hochdeutsch war Jesus unser Gast und segne, was du uns bescheret hast. Amen.
Der Vater sah mich an. Wat sull dat?
Das ist richtig, sagte ich.
Ach, nä, äffte er. Dat es reschtesch, un wie mer kalle, dat es nit reschtesch.
Nein, sagte ich.
Dat heesch: Nä! Die Stimme des Vaters begann zu zittern, Nä heesch dat! Nä! Nä! Nä!
Der Bruder lachte und machte Mäh, mäh, mäh.
Ruhe, brüllte der Vater, wat jidd et do ze lache! Nä heesch dat, han esch jesäät!
Nein, sagte ich.
Josäff, sagte die Mutter. Nu äß doch jet. Du häs doch Honger. He häs de dat Bruut un de Woosch. Der Vater griff zu. Wat denks de ejentlich, wer de bes! Denks de, dat de jet Besseres bes? Denk jo nit, dat de jet Besseres bes. Janix bes de, janix!
Erschrocken griff ich mit der linken nach der rechten Hand. Ja, ich war noch da. So mich mit mir umklammernd, mich in meinem Körper erdend, hob ich ab. Was denkst du, wer du bist, was denkst du, wo du bist? Denkst du, daß du was Besseres bist! Ah, wie das in den Ohren sauste, wenn der Achtspänner aus dem Schloßtor bog, über die Zugbrücke und den Hügel hinab ins weite Feld. Wie meine offenen Haare flatterten und die Röcke im Fahrtwind flogen. Dem ersten Hügel folgte ein zweiter, ein dritter, eine endlose Hügelwelle, aufwärts oder hinab, was denkst du eigentlich, wer du bist, was denkst du eigentlich, wo du bist, und der Himmel da oben, wie ist er so weit.
Nä, rief ich, Nä, als der Vater das Stöckchen hinter der Uhr hervorholte. Zu spät.
Nachts träumte ich, wie die Wörter zu Felde zogen: Nä, nä, nä, Minsche, Minsche, Minsche, lommer jonn, loßet jöcke, he kütt. Die kölschen Wörter, dreckig und übermächtig, gewalttätig und ordinär, schleuderten ihren ganzen Mist auf die Hochdeutschen, bis diese aussahen wie sie und alle zusammen unter einer schmutzigen Kruste erstarrten und verstummten.
Ich verstummte nicht. Aber sprechen, wie mir der Schnabel gewachsen war, konnte ich nur noch auf dem Papier. Meine Sammlung schöner Sätze und Wörter wuchs. Besonders durch Besuche bei der Frau Bürgermeister. Sie riß schon lange keine Kalenderblätter mehr ab und ließ sie büschelweise für mich hängen.
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