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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Jedesmal durfte ich auf die dreistufige, breite Leiter steigen, wo ich, wie der Obstbauer seine Äpfel und Birnen, bedächtig Blatt um Blatt die Ernte prüfte. Die meisten Blätter taugten nicht viel. Zeichenwitze oder Ratschläge für die Hausfrau: >Reiben Sie ihre Töpfe mit Essig ab, damit sie wieder glänzen.< »Halten Sie beim Zwiebelschneiden eine Graubrotscheibe zwischen den
    Zähnen, und Sie müssen nicht weinen<; Sprüche aus dem >Hun- dertjährigen Kalender für den Gärtners Aber dann waren da Sätze, die ich kaum verstand, mich aber kostbar und einzigartig dünkten, jedes Blatt, wenn schon nicht der Stein selbst, so doch eine Verheißung des Steines der Weisen.
    Loß ens Iure, sagte die Großmutter anfangs ein paar Mal, Loß ens Iure, wat do drop steht: Nischts is im Verstand, wat nischt vorher in den Sinnen war. Nä, wat ene Kokolores! Wat wells de dann domit?
    Ich preßte die Lippen zusammen. Hielt die Großmutter etwas für Quatsch, selbst wenn es aus der Wohnung der Bürgermeisterin kam, war Widerspruch sinnlos.
    Anfangs legte ich die Zettel in mein Gebetbuch. Ich liebte es, den Kopf in die Hände gestützt, als betete ich, über den Sätzen zu brüten, sie hin und her zu denken, Wort für Wort, sie im Inneren auf die alten Melodien der Kirchenlieder zu singen, sie einander gegenüberzustellen, sie zu vermischen, mit ihnen zu spielen. Bis dieses Gebetbuch, unmäßig aufgequollen, eines Sonntagnachmittags, ich hatte noch Kinderfunk gehört - Eduard Marks mit dem Märchen vom >Kalif Storch< - und mich erst in der letzten Minute zur >Christenlehre< um halb drei aufgerafft, bis dieses Gebetbuch, eben als die Mutter es mir in die Hand drücken wollte, auseinanderfiel und ein Schwarm von Kalenderblättern und Heiligenbildchen auf die rot-weißen Flurfliesen niederging.
    Jott, schrie die Mutter, wat es dat dann? Wo kütt dann dä Pa- pierkrom her? Mamm, damit meinte sie die Großmutter: Hät dat Blaach die von dir? Großmutter hatte sich nach dem Essen wie immer unter das Kruzifix gesetzt, den Rosenkranz hervorgeholt und war spätestens beim »Abgestiegen zu der Hölle< im Credo eingenickt.
    Wat es dann, Maria? Die Großmutter schaute verwirrt, schlafrot.
    Ich hatte alles schon wieder in meinem Gebetbuch verstaut und wollte weg.
    He jeblevve! Hät dat Blaach die Zeddel von dir? Die Mutter entriß mir das Gebetbuch, hielt es am Rücken, schüttelte es. Mama! Ich stürzte mich auf meine Zettel. Dat sind Zettel von der
    Frau Bürgermeister. Die Mutter knallte das Gebetbuch auf die Kommode: Es dat wohr? herrschte sie die Großmutter an.
    Ja, gestand die, ävver wer kunt dann ahne, dat dat Blaach die en et Jebäätbooch stopp. Her domit, met däm Düvelszeusch.
    Zu dritt lagen wir im Flur auf den Knien und grapschten nach den Kalenderblättern. Drei konnte ich in Sicherheit bringen. Die anderen lohten noch einmal auf und waren dann in der Asche des Küchenherdes verloren.
    Mit Rotstift schrieb ich die Geretteten in mein Heft: >Ist die Wahrheit nichts wert, weil sie dir Leiden bringt?< - >Nichts ist im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen war.< - >Auch aus einem bescheidenen Winkel kann man in den Himmel springen.< Danach trug ich jedes Blatt sofort in mein Heft ein. Die meisten lernte ich auswendig. Meine Waffenbrüder, meine Verbündeten. Manchmal wählte ich sie um ihrer Bedeutung willen, manchmal wegen des Klangs, dann wieder betörte mich allein ihr Geheimnis: >So wie der Süßapfel rot wird ganz hoch an der Spitze des Zweiges/hoch an dem höchsten von allen - ihn haben die Pflücker vergessen/(nein doch! o nein! nicht vergessen! sie konnten ihn nur nicht erreichen!).< Mit ihnen wappnete ich mich gegen Rückfälle ins Kölsche, das mich immer wieder von meinen schmallippigen Zischlauten, den vorderzahnigen >l's<, meinen entschlossen scharfen >s< zu den gewohnten, gemütlicheren Tönen verführen wollte. Ich blieb stur. Fräulein Abendgold, die beim Vortragen mit Zeige- und Mittelfinger der Rechten auf die linke Innenfläche der Hand schlug, als klopfe sie die Verse aus ihrer Handmuschel heraus, tat ich alles zuliebe. Und Doris natürlich. Seit ihrem Geburtstag, an dem ich die Ballade vom >Knaben im Moor< aufgesagt hatte, worauf Doris' Mutter gemeint hatte, damit müsse ich ins Radio, waren wir unzertrennlich.
    Es hatte Würstchen gegeben. Alle aßen mit Messer und Gabel, führten geschickt die mit der Rechten geschnittenen Stücke mit der Linken in den Mund, während ich das Würstchen packte, in den Senf

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