Das verbotene Eden 01 - David & Juna
kaum unbeschadet überstanden. Blieben nur die Bücher. Ohne sie wäre die Vergangenheit ein großes schwarzes Loch. Doch das Wissen war im höchsten Maße lückenhaft. Zum Beispiel gab es Bücher über Pflege und Wartung von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotoren, aber so gut wie nichts über den klassischen Buchdruck. Die Mönche mussten dieses Wissen aus wenigen Bruchstücken und mittels eigener Erfindungsgabe rekonstruieren. Hinzu kam, dass die wenigen noch existierenden Bücher allesamt vom Verfall bedroht waren. Bindungen lösten sich, das Papier vergilbte, und der Klebstoff bröckelte. Abschriften per Hand waren mühselig und zeitraubend. Deshalb war es so wichtig, bald ein Verfahren zu entwickeln, wie man sie reproduzieren konnte. Doch ob und wann das wieder möglich sein würde, das stand in den Sternen.
David schritt die Regale entlang, wobei er jedes einzelne mit der Hand berührte. Als er am achten Regal auf der rechten Seite angelangt war, blieb er stehen. Vor ihm ragte ein großer dunkler Wandschrank in die Höhe, so schwarz, dass man ihn leicht für ein riesiges, tiefes Loch hätte halten können. Doch David war so oft hier gewesen, dass er das Schlüsselloch auch ohne hinzusehen fand. Mit geschlossenen Augen tastete er nach dem Schlüssel in seiner Kutte, zog ihn heraus und steckte ihn in die Öffnung. Er traf sie, ohne einmal danebenzuzielen.
Vorsichtig öffnete der die Tür. Sein Herz klopfte. Wenn nur niemand hereinkam! Meister Stephans Warnung war deutlich genug gewesen. Die Spannung stieg. Er genoss den Augenblick, sog ihn in sich auf.
Sein Ziel war es, ein bestimmtes Werk mit geschlossenen Augen zu finden. Das Buch der Bücher, die größte Liebesgeschichte, die jemals geschrieben worden war, wie Meister Stephan einmal gesagt hatte. William Shakespeares
Romeo und Julia.
Er wusste nicht, wie oft er das Buch gelesen hatte. Vielleicht dreißig oder vierzig Mal. Natürlich immer im Verborgenen und unter ständiger Gefahr, entdeckt zu werden. Mittlerweile gab es Passagen, die er auswendig konnte. Meister Stephan hatte ihm erzählt, dass es zu den Klassikern der Weltliteratur gehörte, und das, obwohl es fast fünfhundert Jahre alt war. Die Geschichte zweier junger Liebender aus verfeindeten Familien, die mit einem Doppelfreitod endet.
David konnte sich nicht erklären, warum ihn gerade dieses Buch so faszinierte. Sein Inhalt war in höchstem Maße subversiv, immerhin ging es um die Liebe zwischen Mann und Frau. Manche seiner Brüder hätten seine Exkommunizierung gefordert, wenn sie gewusst hätten, was er hier tat. Er hätte sich schämen sollen, so ein Buch überhaupt anzufassen, geschweige denn darin zu lesen. Obendrein hatte es ein ziemlich deprimierendes Ende. Romeo und Julia starben durch eigene Hand – eine Todsünde! Vielleicht war es gerade das, was ihn so berührte. Diese bedingungslose Hingabe, die über den Tod hinausreichte. Die Szene, in der sich die beiden Familien am Grab der Liebenden versöhnen, war eine Schlüsselszene der Literatur und trieb ihm jedes Mal die Tränen in die Augen. Trotzdem war er immer wieder über sich selbst erschrocken, dass er sich so stark von diesem Buch angezogen fühlte.
Er fand es auf Anhieb. Ein schlankes, hohes Büchlein, in rotes Leinen gebunden und mit einem Lesebändchen versehen. Die Ausgabe bot eine Besonderheit: den englischen Originaltext auf der linken Seite und die Übersetzung rechts. Das Schönste aber waren die Bilder. Aufwendige Kupferstiche, die nicht mitgedruckt, sondern nachträglich ins Buch eingeklebt worden waren. David war das Buch anlässlich einer Restaurierung in die Hände gefallen. Der Klebstoff, der die Stiche an Ort und Stelle halten sollte, war alt und bröckelig geworden, so dass die wunderbaren Bilder wie Briefmarken durcheinandergeflogen waren. Um sie zuordnen und in der richtigen Reihenfolge einkleben zu können, musste David den Text lesen. Seitdem war er nicht mehr davon losgekommen.
Er zog das schmale Bändchen heraus und schlug es auf. Wie von allein klappte es an einer bestimmten Stelle auf. Ein Bild war dort zu sehen: die Darstellung Julias, wie Romeo sie das erste Mal in der Halle von Capulets Haus erblickt.
Wer ist das Fräulein, welche dort den Ritter
Mit ihrer Hand beehrt?
Julia war rothaarig und besaß grüne Augen. Sie hatte fein geschwungene Augenbrauen, eine kleine gerade Nase und volle Lippen, die ein amüsiertes Lächeln andeuteten. Das Gesicht einer jungen Frau, die es gewohnt war, angehimmelt zu
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