Das verbotene Land 1 - Die Herrscherin der Drachen
übergebe ich den Rednerstab an Bran«, erwiderte die Ministerin.
Da es keine Einwände gab, reichte sie den juwelenbesetzten Stab mit ihrer klauenbewehrten Pranke an den jungen Drachen weiter. Bran war relativ jung für ein Familienoberhaupt und gehörte dem Parlament noch nicht lange an. Dennoch wusste Drakonas, welches Haus der Drache repräsentierte. Ein leichter Schauer überlief ihn.
»Ich bin Bran«, hob der Drache mit glutroten, scharfkantigen Worten an. »Zweifellos ist dir bekannt, dass Maristara meine Großmutter ist.«
Drakonas neigte zustimmend den Kopf. Wieder gab es nichts weiter zu sagen als höchstens: Mein Beileid.
»Ich werde zunächst darlegen, was sich in den letzten dreihundert Jahren zugetragen hat. Hierbei bitte ich das Parlament um Nachsicht, denn ihr alle kennt die Geschichte, ihr habt sie erlebt. Dennoch bringe ich Neuigkeiten, die vermutlich keiner von euch kennt.«
Die Drachen machten es sich bequem. Ein paar wechselten Blicke miteinander, doch alle hielten ihre Gedanken im Zaum. Wenn Bran öffentlich über die schändliche Vergangenheit seiner Familie sprechen wollte, stand ihm dies zu. Drakonas hatte als Untergebener in dieser Angelegenheit nichts zu sagen. Er hatte jedoch auch nichts dagegen, die Geschichte wieder einmal zu hören und sein Gedächtnis aufzufrischen. Schließlich sah es so aus, als würde er demnächst auch eine Rolle darin spielen.
»Zu Beginn«, setzte Bran an, »möchte ich euch die Gesetze der Drachen ins Gedächtnis rufen, die bei der allerersten Zusammenkunft des Parlaments vor vielen tausend Jahren festgehalten wurden. Das erste Gesetz: Drachen dürfen Menschen nicht das Leben nehmen. Das zweite Gesetz: Drachen sollen sich nicht in die Angelegenheiten der Menschen einmischen. Sie müssen beim Umgang mit den Menschen auf jeglichen Zwang wie Gewalt, Einschüchterung, Drohungen, Hinterhalt und Erpressung verzichten. Das dritte Gesetz: Drachen sollen keinen Umgang mit Menschen haben – mit einer Ausnahme.«
Hier legte Bran eine Pause ein und bedachte Drakonas – die Ausnahme – mit einem höflichen Nicken.
Dann fuhr er fort: »Vor dreihundert Jahren hat der Drache Maristara alle Gesetze der Drachen gebrochen. Damals eroberte sie das Menschenreich Seth und schwang sich zur Herrscherin über dieses Reich und alle seine Bewohner auf. Das Parlament übersandte Maristara ein Dokument, in dem es mit deutlichen Worten darauf hinwies, dass Maristara das Gesetz gebrochen hatte. Sie wurde aufgefordert, ihren Feldzug abzubrechen und sich zurückzuziehen. Maristara reagierte mit keinem Wort darauf. Das war ihre Antwort. Man schickte eine Delegation, die mit ihr verhandeln sollte. Sie aber errichtete magische Barrieren, um sie fern zu halten. Da die Drachen nicht das Recht hatten, diese Schranken zu durchbrechen, mussten sie unverrichteter Dinge umkehren. Die Zeit verging. Jedes Parlament diskutierte von neuem über das Thema Maristara, doch niemand wusste einen Rat. So etwas war in unserer langen Vergangenheit nie vorgekommen. Niemand wusste, wie man damit umgehen sollte. Über hundert Jahre wurde debattiert. Manche sagten, sie würde das Spiel schon leid werden, wenn wir sie einfach in Ruhe ließen. Andere sprachen sich nachdrücklich für weitere Angriffe aus, um sie zu vertreiben. Schließlich handelte das Parlament, doch es handelte halbherzig. Man gestattete meinem Vater, nach Seth zu fliegen. Er sollte versuchen, seine Mutter zur Vernunft zu bringen. Vergeblich bemühte er sich, die Magie zu durchdringen. Wieder debattierte das Parlament lange Zeit. Nachdem weitere hundert Jahre verstrichen waren, entschied es, dass uns keine andere Wahl bliebe: Man wollte Maristara mit Gewalt entmachten.«
»Wir alle wissen, was dann geschah, Bran«, mahnte Anora. »Ich glaube nicht, dass du näher darauf eingehen musst.«
Die anderen Drachen schauten sich um. Rote Augen glitzerten. Drakonas' Gedanken füllten sich mit schrecklichen Bildern voller Blut und Schmerz. Entschlossen wehrte er sie ab.
Anora warf Bran einen Blick zu. Der zog eine Braue hoch. Seufzend gab sie nach. »Nun gut, Bran. Fahre fort.«
»Vor neunzehn Jahren schickte das Parlament einen Trupp Drachen in das Königreich. Sie sollten die Menschen befreien und Maristara vor Gericht bringen. Mit vereinter Zauberkraft gelang es ihnen, die Barriere zu durchbrechen. Jedenfalls glaubten sie das. Doch es war eine Falle. Sie wurden angegriffen, aber nicht von einem Drachen, sondern von Menschen. Das Ergebnis«,
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