Das verbotene Land 1 - Die Herrscherin der Drachen
ihn mit einem Blick auf. Sie schaute verstohlen zu ihrem Sohn, ehe sie eilig auf Drakonas zukam und ihm eine Hand auf den Arm legte. Die Grübchen und die Unbeschwertheit waren verflogen.
»Gunderson sagte, Ihr wärt ein Drachenjäger«, raunte sie ihm zu. »Ich hoffe, Ihr könnt uns beistehen. Ned hat in den letzten zwei Wochen kaum geschlafen und gegessen. Er macht sich solche Sorgen um sein Volk, und er kommt sich so hilflos vor. Die Kaufleute laufen Amok …«
Die Königin hielt inne und betrachtete Drakonas aus der Nähe. Er wurde begutachtet. Sie wollte ihm etwas Vertrauliches mitteilen und versuchte herauszufinden, ob sie ihm trauen konnte. Nach gründlicher Musterung hatte sie sich entschieden.
»Ich erzähle Euch das, Fremder, weil Ned es nicht tun wird. Mein Mann wird von den Ministern bedrängt, meinen Vater, den König von Weinmauer, um Soldaten zu bitten und uns zum Protektorat zu erklären. Aber das würde Ned umbringen. Mein Vater hat schon lange ein Auge auf unser schönes Reich geworfen. Er will es sich unter den Nagel reißen. Deshalb hat er mich mit Ned verheiratet. Zu seiner großen Enttäuschung habe ich seine Pläne durchkreuzt. Ich weiß, dass er von dem Drachen gehört hat. Seine Spione unterrichten ihn gut. Wenn er Soldaten schickt, gibt es Krieg, denn Ned wird keinesfalls zulassen, dass wir uns Weinmauer unterwerfen. Wir vermuten, dass mein Vater mindestens zwei der Minister besticht …«
Plötzlich kam ihr ein schockierender Gedanke. Sie schrak zurück und sah Drakonas misstrauisch an. »Und Euch womöglich auch!«
»Ich verstehe nichts von Politik, Königin Ermintrude«, versicherte Drakonas. »Da kann ich Euch beruhigen. Ich möchte hier nur meine Arbeit tun.«
Eine Träne rann über Ermintrudes Wange, und in ihren Augen schimmerten noch mehr.
Drakonas trat hastig zurück, wandte sich ein wenig ab und verschränkte die Hände hinter seinem Rücken.
»Ja, gütiger Himmel«, rief Ermintrude aus. »Seid Ihr einer von denen, die keine Weibertränen ertragen können?«
Drakonas' Mundwinkel zuckte. »Ihr habt es erraten, Herrin.« Diesmal verneigte er sich.
»Keine Sorge«, versprach Ermintrude, während sie sich noch die Augen wischte. »Ich weine nicht mehr. Es ist nur – Ihr seid der Erste, der bisher behauptet, er könne helfen, dem ich das auch wirklich glauben kann. Sofern mein Mann Euch ebenfalls Glauben schenkt. Aber warum sollte er das auch nicht?«
»Nun, meine Methoden sind vielleicht etwas ungewöhnlich.«
»Soweit ich weiß, tanzt Ihr nicht nackt im Mondlicht.« Wieder erschien ein Grübchen auf Ermintrudes Wange.
»Nein, Herrin«, bestätigte Drakonas mit leichtem Lächeln. Dieses Grübchen war ansteckend.
»Ach, wie schade.« Ermintrude seufzte. »Das hätte mir bestimmt gefallen. Er kommt schon, Wilhelm«, rief sie dem Prinzen zu, der ungeduldig mit den Füßen scharrte. »Bitte verratet meinem Sohn nicht, was ich Euch mitgeteilt habe. Wir wollen nicht, dass er und die anderen Kinder sich Gedanken machen.«
Die Etikette hätte jetzt einen Handkuss gefordert, doch Ermintrude war so abgelenkt, dass sie dem Gast nicht die Hand reichte. Drakonas griff von selbst nicht danach, denn es klebten noch immer Tränen an ihren Fingern. So verbeugte er sich und zog sich zufrieden zurück.
»Das läuft besser als erwartet«, fand er. »Ein drohender Krieg, und das alles nur wegen ein paar niedergebrannten Dörfern und einigen toten Kühen.«
Während er fortging, um sich zu waschen und die Neugier des Prinzen mit ein paar faustdicken Lügen über die Drachenjagd zu befriedigen, dachte er bei sich: »Die Menschen geben sich solche Mühe, ihr Leben möglichst kompliziert zu gestalten. Anscheinend ist dieser arme König genau so verzweifelt, wie ich gehofft hatte.«
5
Edward der Vierte aus dem Hause Ramsgate war mit seinen dreißig Jahren ein junger König. Sein Vater war mit Mitte fünfzig gestorben, nachdem er auf einer Jagd verseuchtes Wasser getrunken hatte. Beinahe hätte Edward seinen Vater auf dieser Jagd begleitet, doch er war im letzten Augenblick zu Hause geblieben, weil der kleine Prinz gefiebert hatte. Wäre er mitgekommen, so hätte er zweifellos von demselben Wasser getrunken, wäre derselben Krankheit erlegen und hätte seinem damals fünfjährigen Sohn das Königreich hinterlassen.
Während Drakonas sich in der großen Schüssel wusch, welche die Dienstboten in seine Schlafkammer gebracht hatten, klärte Wilhelm ihn über seine Familiengeschichte auf. Der
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