Das verbotene Land 1 - Die Herrscherin der Drachen
Minuten.
»Lasst mich sie tragen«, verlangte Edward streng.
»Ihr habt mit Euch selbst genug zu tun«, wehrte Drakonas ab.
Wie um seine Worte zu bekräftigen, stolperte Edward unsanft über einen Stein und landete auf dem Boden. Drakonas verlangsamte seine Schritte und lauschte, ob der König unverletzt war. Sobald er leises Fluchen und Bewegungen hörte, setzte er seinen Weg fort.
Gleich darauf kam Edward herangetaumelt. »Wenn wir hier raus sind«, drohte er ächzend, »seid Ihr dran!«
»Ich hoffe, es kommt dazu«, gab Drakonas zurück. Er machte sich Sorgen, weil er den Drachen nicht mehr hörte.
»Was soll das heißen?«
Stille bedeutete Ruhe. Stille bedeutete Nachdenken, Pläne, Ränke.
»Nichts Gutes«, meinte Drakonas grimmig.
Während sie tiefer in den Berg vordrangen, blieb Edward ganz nah bei Drakonas und Melisande. Immer wieder vergewisserte sich seine Hand, dass die eine noch warm war und atmete und dass der andere in der Schwärze noch neben ihm lief. Drakonas blieb in Bewegung, weil er schlicht keine andere Wahl hatte. Entweder weiterlaufen oder sich hinsetzen und fluchen. Das mochte zwar seiner Gemütslage entsprechen, half aber nicht weiter. Er hatte keine Ahnung, was der Drache ausheckte. Maristara durfte sie nicht entkommen lassen. Sie wussten zu viel. Das Drachenweibchen musste sie aufhalten. Der einzige Punkt zugunsten der Menschen war, dass sie sich im Drachenhort befanden.
Auf sich selbst gestellt, hätten Edward und Melisande sich sofort verirrt, und Maristara hätte sie erwischt. Doch die Menschen waren in Begleitung eines Drachen, der sich mit Höhlen auskannte und wusste, dass jeder Drachenhort mehr als einen Ausgang besaß.
Drakonas bewegte sich mit großer Eile, und Edward hielt Schritt, obwohl sein angestrengtes Keuchen, die abgehackten Worte und die stolpernden Schritte verrieten, dass der König nicht mehr lange durchhalten würde. Plötzlich teilte sich der nach unten führende Tunnel, den sie gewählt hatten. Ein Weg führte nach rechts ab, der andere ging geradeaus weiter. Drakonas hielt so abrupt an, dass Edward gegen ihn prallte und sich mit einer Hand an der Schulter seines Begleiters abfangen musste.
»Was ist denn?«, japste Edward, der kaum noch genug Luft bekam, um diese Frage zu stellen. »Was ist los?«
In den Augen eines Menschen waren beide Tunnel gleich – schwarz und einsam. Für die Augen, Ohren und Nase eines Drachen hingegen unterschieden sie sich enorm. Der Gang, der geradeaus weiterführte, war schwach beleuchtet und von einem fauligen Geruch erfüllt. Das Gefälle führte tiefer in den Berg hinein. Der andere Tunnel war heller, etwas frische Luft wehte heraus, und er verlief ganz eben.
»Wir haben uns verirrt, richtig?«
Edward sank auf den Boden, wo er mit geschlossenen Augen sitzen blieb, den Kopf an die Wand gelehnt. Bald würden Schmerz und Erschöpfung bei ihm jenes gefährliche Stadium erreichen, in dem es einem Menschen gleichgültig war, ob er lebte oder starb.
Drakonas nahm die Frau von der Schulter und legte sie Edward auf den Schoß.
»Ich glaube, ich habe den Weg nach draußen gefunden, aber ich will ihn mir erst ansehen. Passt auf sie auf«, mahnte Drakonas. »Versucht, sie zu wärmen. Nehmt sie fest in Eure Arme.«
Das wird ihn schon ins Leben zurückrufen, dachte Drakonas.
Melisande regte sich. Stöhnend holte sie tief Luft und schmiegte sich auf der Suche nach Wärme instinktiv an Edward. Der König wollte sie in den Arm nehmen, doch dann zögerte er. Wo sollte er seine Hände hinlegen? Man hatte ihn zum Edelmann erzogen und mit Geschichten von ritterlicher Liebe genährt – einer Liebe, die Schönheit nur von weitem betrachtet, aber nicht berührt. Einer Liebe, die rein und keusch bleibt, bis in den Tod.
»Sie steht wahrscheinlich unter Schock«, drängte Drakonas. »Ihre Kleider sind völlig durchnässt, und sie hat so Schreckliches erlebt, dass die Kälte sie umbringen kann.«
»Alles wird wieder gut, Melisande«, flüsterte Edward und umarmte sie. »Ich bin da und passe auf, dass Euch nichts Böses widerfährt.«
Als Drakonas die beiden betrachtete, kam ihm ein Gedanke. Es war ein merkwürdiger, verzweifelter Einfall, der ihm gar nicht gefiel, weshalb er ihn auch augenblicklich reumütig verwarf. Doch wie ein Lied, das einem nicht mehr aus dem Kopf geht, klammerte sich der Gedanke hartnäckig in ihm fest.
»Wartet hier.« Diese Bemerkung war überflüssig, denn die beiden Menschen hatten nicht mehr die Kraft,
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