Das verbotene Land 1 - Die Herrscherin der Drachen
komplizierte, mächtige Zaubersprüche erfordert, für welche die Drachen sich tagelang vorbereitet hatten, um dann Tage für die Umsetzung zu brauchen. Maristara hatte diesen Vorgang beträchtlich verkürzt und dadurch weit weniger aufwändig gemacht. Was für ein schlauer Plan – einem Menschen das Herz zu stehlen und dann mit dessen Hilfe und Magie auch den Körper dieses Menschen. Drakonas fragte sich, wie viele bedauernswerte Frauen gestorben waren, bis Maristara ihre Kunst so perfekt beherrschte.
Er hatte sie in einem ungünstigen Moment erwischt, während sie zwischen ihrer menschlichen Gestalt und ihrem Drachenleib festsaß. Drakonas konnte ihre Lage nachvollziehen. Er hatte dieses Pech selbst einmal gehabt und verglich es gern mit einem Mann, der aufgespürt wird, wenn er gerade die Hosen heruntergelassen hat. Natürlich ist er mit oder ohne Hosen derselbe Mann, doch bestimmte wichtige Teile von ihm sind nackt und verwundbar.
Der Drachenkopf auf dem langen, sehnigen Hals stieß herunter.
»So«, begann Maristara von Geist zu Geist, wie die Drachen reden. Ihre roten Augen erforschten ihren Gegner intensiv. »Du bist also Drakonas – der Zweibeiner.«
Das Wort »Zweibeiner« hatte einen höhnischen, grünen Glanz. Unter Drachen war es ein abfälliger Begriff, der einen Drachen bezeichnete, der wie ein Mensch läuft – der sich mit Menschen abgibt.
Drakonas hätte die Beleidigung erwidern können, doch damit würde er ihren Spielregeln folgen, und er hatte ein eigenes Spiel vor. Er musste Geduld haben und den richtigen Augenblick abwarten. Nur nicht vorzeitig zuschlagen.
Maristara hatte ihn sofort durchschaut. Ihre Augen sahen den Menschen, doch ihre Gedanken erfassten seinen Schatten, den Drachen. So sahen ihn alle Drachen. Erstaunlich war jedoch, dass sie nicht ebenso ihren Schatten über seinen Geist geworfen hatte. Erst ab dem Beginn ihrer Verwandlung hatte er begriffen, dass sie ein Drache war. Er hatte nur den Menschen gesehen, nicht den Schatten. Damit war sie eine enorme Gefahr, denn das bedeutete, dass kein Drache sie entlarven konnte.
Seine Gedanken tasteten ihren Verstand ab, schätzten ihn ein wie ein Fechter seinen Gegner. Er fand einen wahren Wirbelsturm der Farben vor: das Rotgold der Erfahrung, loderndes Orange voller Wut und Empörung, gekühlt durch eine Unterströmung eisiger, blauer Berechnung.
Trotz ihres zischenden Atmens konnte er hören, wie die beiden Menschen sich blindlings durch die stockdüsteren Tunnel tasteten, angetrieben von ihrer panischen Angst. Sie waren noch immer zu nah. Er musste Zeit schinden.
Auch Maristara konnte sie hören und wusste, dass ihr neuer Körper zu fliehen versuchte. Doch das machte ihr nichts aus. Sie würden niemals aus den Tunneln herausfinden. Sie konnte sie später jagen, ganz nach Belieben. Momentan galt ihre einzige Sorge Drakonas. Sie wollte ihn ködern, ihm eine Reaktion entlocken, um die Farben seines Verstandes besser kennen zu lernen.
Als ihre Augen ihn erforschten, achtete er darauf, ihrem stechenden Blick auszuweichen. Wenn Drachen miteinander kämpfen, findet dieser Kampf ebenso auf der mentalen wie auf der körperlichen Ebene statt. Jeder versucht, den Blick des anderen festzuhalten und von dort aus direkt in dessen Seele vorzudringen. »Fechten mit dem Degenauge« hatte ein Drache dieses Eindringen einst genannt. Selbst in Drachengestalt hätte Drakonas es sich zweimal überlegt, ob er mit der schlauen alten Maristara ein Blickduell abhalten wollte. Seine armseligen Menschenaugen jedoch waren ihr keinesfalls gewachsen. Deshalb glitt sein Blick schnell wie Quecksilber über sie. Er ließ sie keinen Moment aus den Augen, sah sie jedoch nie direkt an.
»Wirklich ein sehr schlauer Zweibeiner«, höhnte Maristara.
Ihre Verwandlung vom Menschen zum Drachen war nahezu vollendet. Der schwere Körper war für den Altarraum zu groß und behinderte sie daher. Sie musste ihren langen, geschwungenen Hals einziehen. Der dicke Kopf hing tief herunter, aber dennoch kratzte ihr Kamm an der hohen Steindecke entlang. Die Flügel zuckten vor Irritation, denn ein Drache möchte instinktiv seine ganze Spannbreite nutzen, um sein Opfer einzuschüchtern, doch wenn sie das getan hätte, hätte sie sich vielleicht an den Felswänden der Höhle verletzt. Den gewichtigen Schwanz musste sie um die Beine schlingen, weil kein Platz war, um ihn hinter sich herzuschleifen. Dadurch war ihre Bewegungsfreiheit noch mehr eingeschränkt.
Äußerlich war sie nun
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