Das verbotene Land 1 - Die Herrscherin der Drachen
viele Unwägbarkeiten. Außerdem brauchten wir zwanzig Jahre Vorbereitung.«
»Du redest schon wie ein Mensch«, meinte Bran verächtlich. »Was bedeuten uns schon zwanzig Jahre? Das ist doch nur ein Augenblick.«
»Es verstößt gegen all unsere Prinzipien. Nein, es ist falsch«, erklärte Drakonas knapp. »Wir denken nicht weiter darüber nach.«
»Was ist mit den Menschenkindern, die sie gestohlen haben? Welche Qualen werden diese Ungeheuer ihnen zufügen? Was ist mit dieser armen Menschenfrau, die in ihrem Grab auf schauerliche Weise am Leben erhalten wird? Wie viele Menschen sind schon wegen Maristara gestorben? Wie viele werden sterben, wenn tatsächlich ein Krieg zwischen Menschen und Drachen ausbricht?«, gab Bran zu bedenken.
»Ich weiß, verdammt!«, fluchte Drakonas. »Du brauchst mich nicht zu belehren.«
»Ich lege deinen Plan Anora vor«, beschloss Bran. »Meiner Meinung nach wird sie ihn gutheißen. Selbst wenn wir uns zwischenzeitlich anders entscheiden, können wir im Notfall immer noch darauf zurückgreifen.«
»Erinnere sie aber daran, dass wir von Menschenleben sprechen«, mahnte Drakonas.
»Das werde ich«, versicherte Bran sanft. »Von vielen tausend Menschen.«
Die hatte Drakonas nicht gemeint und wollte gerade darauf verweisen, als Bran ihn unterbrach.
»Da unten bewegt sich etwas.«
»Soldaten?«, fragte Drakonas.
»Ja, sie kommen aus dem Pass.«
»In welche Richtung?«
»In deine«, teilte Bran ihm mit.
Ein Drachenhort entspricht dem Netz einer Spinne. Die Spinne fühlt jedes Beben jedes seidenen Strangs. Der Drache weiß, was in jedem Tunnel vor sich geht. Maristara hatte die Hitze ihrer Feuerillusion gespürt und den Schrei des irren Mönches gehört. Sie wusste, wo sie nach ihnen suchen musste, wenn auch nicht, wo sie steckten.
»Wie viele?«
»Dreißig.«
»Mehr verrückte Mönche?«
»Soldaten. Ich sehe ihre Rüstungen glänzen.«
»Wie lange noch, bis sie hier sind?«
»Sie kommen zu Pferd und reiten schnell, aber noch sind sie auf der Straße. Bald müssen sie den Weg verlassen und über einen steinigen Hang reiten. Da werden sie deutlich langsamer werden. Ich schätze, ihr habt noch ein paar Stunden, ehe sie halbwegs bei euch sind. Wirst du mit ihnen fertig?«
»Ja, sie werden mir sogar helfen. Einer meiner Menschen verhält sich nicht besonders kooperativ.«
Der Drache hob die Flügel, sprang in die Luft und ließ sich von den warmen Strömungen in die Höhe tragen. »Wenn du meine Hilfe nicht mehr benötigst, werde ich Anora berichten. Ich hoffe, ich bin bald wieder hier.«
»Lass dir Zeit«, erwiderte Drakonas. »Mir scheint, wir haben reichlich Zeit.«
»Einen Augenblick«, gab Bran zurück.
Der Drache flog nach Süden. Drakonas sah ihm nach. Dann belegte er die Höhle mit einer Illusion, damit sie mit dem Hang verschmolz.
»Damit dürften sie noch eine Weile in Sicherheit sein«, sagte er sich. »Einen Augenblick.«
Erst jetzt machte er sich auf, die Pferde zu holen.
18
Drakonas stand im Schutz einiger Erlen vor der Höhle. Direkt gegenüber, auf der anderen Seite einer tiefen Schlucht, leuchteten blank polierte Helme, Rüstungen und Speere. Drakonas sah zu, wie die Kriegerinnen – es waren ausschließlich Frauen – unbeirrbar in seine Richtung zogen. Er überlegte, welchen Weg sie wohl einschlagen würden, um seine Seite des Berges zu erreichen. Seine Drachenaugen nahmen alle Details wahr. Keine wahnsinnigen Mönche unter ihnen. Jede Frau war mit Pfeil und Bogen sowie einem Speer bewaffnet. Sie hatten nur Wasser dabei, keine sonstige Verpflegung. Also rechneten sie mit einer kurzen Jagd und einer Beute, die leicht zu fangen war.
Nein, nicht zu fangen, verbesserte Drakonas sich selbst. Zu töten.
Er duckte sich zwischen die Bäume. Eine Armee aus lauter Kriegerinnen kam ihm eigenartig vor. In der Geschichte der Menschheit hatte es so etwas selten gegeben, aber für Maristara war dies durchaus praktisch. Als er gerade fand, dass die Kriegerinnen nun so nahe waren, dass es an der Zeit wäre, seine Menschen zu wecken, merkte er, dass einer bereits wach war.
Melisande war im Eingang der Höhle aufgetaucht und schickte sich gerade zur Flucht an. Sie würde jedoch nicht kopflos davonrennen, sondern sich zuerst gründlich umschauen, überlegte er. Genau das tat sie auch. Von der hellen Sonne geblendet legte sie eine Hand über die Augen und wartete ab, bis sie richtig sehen konnte. Nach zwei vorsichtigen Schritten ins Freie blickte sie sich suchend um.
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