Das verbotene Land 1 - Die Herrscherin der Drachen
Dann schlich sie ein paar Schritte weiter, schaute zu den Berggipfeln empor, suchte den Himmel ab und betrachtete wieder ihre unmittelbare Umgebung. Schließlich nickte sie zufrieden und schlüpfte verstohlen davon, in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
»Das würde ich an Eurer Stelle aber nicht tun«, bemerkte Drakonas ruhig.
Erschrocken fuhr Melisande zusammen. Einen Augenblick stand sie da wie angewurzelt, während sie versuchte, ihr hämmerndes Herz zu beruhigen. Erst dann drehte sie sich langsam in die Richtung, aus der seine Stimme erklungen war. Drakonas erhob sich aus den Schatten und ging auf sie zu.
Sie hatte sich von ihrem Schrecken bereits wieder erholt und gleich eine Ausrede parat.
»Ich wäre gern allein, mein Herr«, erklärte sie mit erhobenem Kinn. »Um mich frisch zu machen.«
Drakonas nickte zu den Büschen, in denen er sich versteckt hatte. »Gleich da drin. Absolut sicher.«
Melisandes Kleider waren über Nacht ein wenig getrocknet, doch der schwere Stoff war immer noch feucht. Sie zitterte, denn sie stand im Schatten. Die Haare hingen in verfilzten Strähnen über ihre Schultern. Sie strich sie zurück und warf einen Blick auf die Büsche. Eine leichte Röte überzog ihre Wangen.
»Das ist viel zu nahe.«
»Tut mir Leid, ich kann nicht zulassen, dass Ihr Euch weiter entfernt.«
Das Rot in Melisandes Gesicht wurde dunkler. Sie richtete sich auf und sah ihn gebieterisch an. »Also bin ich Eure Gefangene?«
»So redet man nicht mit jemandem, der Euch gerade das Leben gerettet hat, Melisande. Ich habe die ganze Zeit Wache gehalten, während Ihr geschlafen habt. Was dachtet Ihr denn? Dass der Drache Euch einfach entkommen lassen würde? Nach allem, was Ihr gesehen habt?«
Das Blut wich aus ihrem Gesicht. Sie presste die Lippen aufeinander und schlang die Arme um die Brust. Dann wendete sie sich von ihm ab.
»Wo wolltet Ihr hin?«, fragte er.
Die Priesterin sah ihn wieder an. Das Blau ihrer Augen war die einzige Farbe in ihrem bleichen Antlitz.
»Zurück«, erklärte sie. »Um ihnen die Wahrheit zu sagen.« Diesmal kam sie auf ihn zu. »Ihr müsst mich gehen lassen.« Sie streckte ihm die Hand entgegen, als läge ihr Argument sichtbar darauf. »Ich muss es Bellona und den anderen sagen. Mein Gott!« Ihre Finger krümmten sich zusammen. »Ein Drache! Unsere Meisterin – ein Drache! Und die arme Frau. Lebendig begraben in der Finsternis! All die Jahre hat sie entsetzlich gelitten. Das goldene Medaillon …«
Sie knickte zusammen, umklammerte ihren Bauch und übergab sich. Da sie nichts im Magen hatte, war das Würgen nur ein schmerzhafter Krampf. Nachdem die Übelkeit vorüber war, richtete sie sich wieder auf und fuhr mit festerer Stimme fort: »Ihr seht also, Ihr müsst mich ziehen lassen. Der Zugang zur Höhle muss ganz in der Nähe liegen. Ich weiß, dass wir nicht weit gelaufen sind.«
Drakonas hielt sie an den Handgelenken fest, riss sie unsanft zu sich und zwang ihr einen langen Blickwechsel auf.
Keuchend wehrte sie sich gegen seine Berührung. Er sah die Angst in ihren Augen. Einen Moment lang hatte er Sorge, sie könnte erkennen, wer er wirklich war. Immerhin verfügte sie über Drachenmagie. Konnte sie ihn sehen? Andere Drachen erkannten ihn.
»Lasst mich los!«, schimpfte sie und wich zurück. »Ihr tut mir weh!«
Nein, begriff Drakonas. Sie hatte Angst vor ihm, weil er ein Mann war. Er fühlte die Spannung in ihrem Körper und erriet, dass sie wohl noch Jungfrau war. Wenn sie die Liebe kannte, dann die Liebe der Frauen. Der Kriegerinnen, welche die Priesterinnen schützten und von den Männern fern hielten, weil …
Weil der Drache nur so gezielt Kinder heranzüchten konnte, die Drachenmagie besaßen! Maristara konnte nicht zulassen, dass derart begabte Frauen heirateten und eine Familie gründeten. Sie musste sie um sich behalten, um die wunderbare Ernte einzufahren.
»Wenn Ihr zurückkehren würdet, würdet Ihr nicht lange genug leben, um es irgendjemandem zu erzählen«, sagte Drakonas. »Dafür würde der Drache schon sorgen.«
Als er sie losließ, taumelte Melisande. Sie massierte ihre Handgelenke und gab Acht, außer Reichweite zu bleiben. Zu fliehen versuchte sie nicht, aber sie hatte ihr Vorhaben auch noch nicht aufgegeben. Ihre Stimme nahm einen harten Klang an, als sie nun mit neuer Entschlossenheit sprach.
»Ihr macht mir keine Angst. Jetzt, da ich weiß, was die Meisterin ist, werde ich schon mit ihr fertig. Schließlich habe ich mein Leben lang
Weitere Kostenlose Bücher