Das verbotene Land 2 - Drachensohn
durch dichten Wald ersetzt, tauchte wieder auf und verdrängte ihrerseits den Wald. Die Gerüche und Geräusche der Dinge um Markus wechselten wiederholt.
Der Prinz wusste, wie man Staubkörnern Eichelhütchen verpasst, doch eine derart große Illusion hatte er noch nie erlebt. Seine Sinne kämpften miteinander. Es war, als würde das eine Auge Bäume und Mondlicht wahrnehmen, während das andere die mondbeschienene Mauer sah. Beide Sichtweisen schienen in der Mitte seiner Stirn aufeinander zu prallen. Er schloss die Augen, während sein Verstand die unterschiedlichen Versionen der Realität auseinander zu halten suchte, die mit jedem Herzschlag aufflackerten.
Er war im Wald, denn er war über Wurzeln gestolpert, gegen Bäume geprallt und hängen geblieben. Er roch den feuchten Waldboden. Hörte einen Ast brechen. Wenn er die Augen aufschlug, sah er den Wald. Doch im nächsten Augenblick war der Wald verschwunden. Er stand vor einer Mauer und roch und hörte eine Stadt. In den Gassen lag stinkender Unrat, in den Straßen waren Schritte zu vernehmen.
Die Realität entglitt seinen Händen. Ihm wurde so schwindelig, dass er gegen einen Baum sackte.
»Was ist mit dir?«, flüsterte Bellona erzürnt. »Still! Sie hören dich!«
Zu spät.
Einer der Mönche fuhr herum. Aufmerksam starrte er in die Nacht hinaus.
Markus erstarrte. Er wagte nicht einmal zu atmen.
Die Hand des Mönches fuhr an seinen Gürtel, aus dem er etwas hervorzog. Im Licht der Laternen glänzte ein kleiner Wurfpfeil mit Widerhaken auf. So sanft und anmutig, als würde er eine Braut mit Blütenblättern bestreuen, warf der Mönch den Pfeil in ihre Richtung.
Markus hätte beinahe aufgelacht. Wie lächerlich! Als würde ein Kind Steine werfen. Er erwartete, dass der Pfeil sich vor ihm in die Erde bohrte, doch da durchbohrte er Bellonas Hals.
Sie griff an ihre Kehle und taumelte zurück.
Markus fing sie auf. Vorsichtig legte er sie auf den Boden.
Um den kleinen, befiederten Wurfpfeil herum quoll dunkles Blut aus ihrem Hals. Bellona wollte etwas sagen, brachte jedoch nur ein schreckliches Gurgeln heraus. Ihre Augen starrten Markus an, doch der Tod hatte ihre Seele bereits erfasst. Noch einmal versuchte sie zu sprechen. Unter Qualen formten ihre zitternden Lippen sich zum N.
»Nem! Ich weiß!«, flüsterte er mit brüchiger Stimme. »Natürlich.«
Ihr Körper wurde steif. Ihr letzter Blick nahm sein Versprechen an – und mit ihr in den Tod.
»Natürlich«, wiederholte Markus erstickt.
Er wusste nicht, was er tun sollte. Eben noch hatte sie neben ihm gestanden. Jetzt war sie fort. Ihr plötzlicher, brutaler Tod lähmte ihn. Erschüttert betrachtete er die grausame Wunde und ihre leblosen Augen. Dann kam ihm der Gedanke, dass der Mönch vielleicht noch nicht fertig war. Der nächste Pfeil konnte ihm gelten. Markus hob den Kopf.
Der Mönch wartete wurfbereit an der Mauer. Aufmerksam wartete er auf das nächste Geräusch. Die Kinderschmuggler liefen weiter. Einige sahen sich um, aber keiner blieb stehen. Sie gingen zur Mauer und durch sie hindurch, als bestünde sie aus Nebel, nicht aus hartem Stein.
Grald war verschwunden. Nur der Mönch war noch da.
Markus hockte regungslos in der Finsternis.
Als der Mönch nichts mehr hörte, schob er den Pfeil wieder in den Gürtel, zuckte mit den Schultern, drehte sich um und ging.
In Markus loderte ein Feuer, das sich vollkommen von der glitzernden Freude unterschied, mit der er die Kobolde und Irrlichter erzeugte, um die Dienerschaft zu erschrecken. Er packte die Flamme seiner Wut und formte sie, wie er einst am Flussufer den Lehm geformt hatte. Dann stand er auf. Die Flamme tanzte auf seiner Handfläche.
Verwende keine Magie. Tritt nicht aus dem kleinen Raum!
Drakonas' Worte kamen ihm in den Sinn. Aber Markus wollte sie nicht hören. Seine Wut verzehrte ihn, wie die Magie den Mönch verzehren würde. Markus ging zur Tür seines Zufluchtsortes und wollte sie öffnen.
Eine Klaue zuckte in den offenen Spalt.
Der Schmerz in seinem Kopf war sengend heiß. Erschüttert warf Markus sich gegen die Tür. Die Klaue versuchte, tiefer einzudringen, doch Markus stemmte sich mit aller Kraft gegen die Bresche, bis sie sich schließlich zurückzog. Erschauernd seufzte er auf und schloss die Hand um die Flamme, bis sie erstickt war.
Der Mönch würde als Letzter durch die Mauer treten. Markus sah kein Tor, nicht einmal ein Türchen, doch irgendwie waren diese Menschen in die Stadt gelangt. Es musste ein Tor geben,
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