Das verbotene Land 2 - Drachensohn
Augen waren Prismen, sein Geist ein schimmernder Regenbogen.
Tag und Nacht betrachtete Markus wie gebannt unvorstellbare Farben. Wenn solche Farben überhaupt existierten, kamen sie in der normalen Welt wohl nur so unerwartet wie der Regenbogen und verblassten, bevor man sie festhalten konnte. Markus jedoch konnte dies. Er hielt die Farben in seinen Gedanken fest, bewunderte sie, spielte mit ihnen und tanzte zwischen ihnen. Bei Tag schien die Sonne durch das bunte Glas seiner Phantasie. Bei Nacht funkelten die Sterne durch den hellen Glanz des Mondes, der wie weißes Feuer loderte.
Menschen, Essen oder Schlaf hatten keine Bedeutung.
Er selbst hatte keine Bedeutung. Die Farben waren sein Ein und Alles.
Sie waren unfassbar schön, konnten aber auch entsetzlich werden. Es lag etwas Erschreckendes in ihnen, etwas, das fremd und bestialisch war. Dieses Etwas versuchte, ihn zu finden, doch er wusste, dass er nicht gefunden werden wollte. So verbarg er sich zwischen seinen Farben, die ihn schützend umhüllten, bis die Angst verging und er wieder in Frieden den Regenbogen entlangtanzen konnte.
Einmal hatte er ein Gesicht erblickt, das Gesicht einer Frau, aus Farben gewebt. Es hatte ihn mit so viel Liebe und Verständnis angesehen, dass er die Hand ausgestreckt hatte, um es zu berühren. Da hatte eine andere Hand so wie die seine aus den Farben nach ihm gelangt.
Das Gesicht war zersplittert. Schmerzhaft hatten sich seine Scherben in Markus' Gedanken gebohrt. Die Farben hatten ihn nicht schützen können. Alles war dunkel geworden – eine kühle, beruhigende Finsternis, die er lange nicht hatte verlassen wollen. Doch schließlich war ein leuchtend orangefarbener Funke aufgeblitzt, dann das Grün junger Blätter und strahlendes Goldgelb. Die Farben hatten ihn wieder zum Spielen gelockt. Weder das Gesicht noch die Hand waren je wieder aufgetaucht.
Mitunter hörte er Stimmen aus der Außenwelt, einer Welt, die im Vergleich zu seiner grau und farblos war. Früher einmal hatten die Stimmen ihm etwas bedeutet, doch inzwischen schienen sie von Tag zu Tag ferner zu erklingen. Er hatte schon lange vergessen, wie es sich anfühlte, etwas zu berühren, wie Essen schmeckte oder wie eine Blume roch. Sein Geist führte ihn in die einzige Welt, die er wollte, die einzige, in der er glücklich war.
Er betrachtete die funkelnden, strahlenden Farben und wusste, eines Tages, schon bald, würde er sich in einen Tropfen dieses glitzernden Regenbogenlichts verwandeln, einen kurzen, atemlosen Moment lang darin aufschimmern und dann für immer verblassen.
»So sitzt er immer da«, klagte Ermintrude. Ihre Stimme klang halb erstickt vor Schmerz. »Stundenlang. Er rührt sich nicht, starrt einfach ins Nichts.«
»Meistens ist Markus so still und sanft wie jetzt«, ergänzte Edward. »Aber manchmal wird er gewalttätig, wirft sich hin und kreischt vor Entsetzen. Wenn ihn dann jemand zu berühren versucht, fängt er an zu toben. Mehr als einmal hat er bei diesen Anfällen sich selbst und auch andere verletzt.«
»Es ist keine böse Absicht«, verteidigte Ermintrude den Jungen. »Er weiß nicht, was er tut, das arme Lämmchen. Einmal hat er versucht, durch eine Wand aus Stein zu laufen. Seine Hände waren grün und blau, voller Blut, und er hat sich ein paar Zehen gebrochen, so wild hat er darauf eingetreten. Zwei starke Männer mussten ihn zurückhalten.«
»Hinterher sahen sie aus, als hätten sie mit den Wölfen gekämpft«, berichtete Edward finster. »Wir mussten ihn einschließen. Sonst hätte er sich eines Tages von den Zinnen gestürzt oder jemanden ernsthaft verletzt. Dann hätten wir die Sache nicht mehr geheim halten können.«
»Er isst nicht mehr, Drakonas«, sagte Ermintrude. »Wir haben ihn gefüttert wie ein Baby. Früher hat er noch bereitwillig gegessen, auch wenn es ihm offenbar gleichgültig war, was er bekam. Aber jetzt dreht er den Kopf weg oder spuckt alles aus. Er wird von Tag zu Tag dünner. Ich fürchte … ich fürchte …«
Sie brachte kein Wort mehr heraus, sondern umfasste Edwards Hand. Über ihr Gesicht strömten die Tränen, doch sie schluchzte nicht.
»Markus wird verhungern«, erklärte Edward brüsk. »Wenn wir keinen Weg zu ihm finden können.«
Drakonas blickte durch das kleine Fenster in der schweren Holztür. In der Mitte des Turmzimmers saß ein Sechsjähriger auf einem Hocker und starrte ins Leere. Seine mageren Ärmchen ruhten auf spindeldürren Beinen. Die Hände hingen schlaff herab. Das Kind
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