Das verbotene Land 2 - Drachensohn
gewarnt.
»Du hast Glück gehabt, Junge. Burschen wie dich finden wir meist mit einem Messer zwischen den Rippen in der Gosse auf. Diese Schurken sind schlaue Kerle. Überlass die Suche nach dem Gauner lieber dem Sheriff.«
Doch Nem hatte den verächtlichen Blick in Bellonas Augen gesehen. Allerdings konnte sie ihn nicht mehr verachten als er sich selbst. Er war entschlossen, sich und ihr zu beweisen, was in ihm steckte. Ramone hatte Nem einmal übertölpelt. Ein zweites Mal würde ihm das nicht gelingen.
In den verwinkelten Gassen der Stadt war das Lokal schwer zu finden. Nem verirrte sich gleich zu Beginn. Aber er lief hartnäckig weiter durch die Straßen, bis er irgendwann an bekannte Ecken gelangte. Schließlich entdeckte er das Schild: Einen Papagei, der eine sich windende Ratte am Schwanz festhielt. Sein Herz schlug schneller.
Auf dem Weg zur Schänke fiel ihm ein hübsches, junges Mädchen auf, das auf jemanden zu warten schien. Es wirkte sehr zart und in einer so schäbigen Umgebung irgendwie fehl am Platze. Unwillkürlich blieb sein Blick an ihr hängen. Als er näher kam, bemerkte er ihre Nervosität. Sie schrak vor den Gästen zurück, die zum Bierschoppen kamen. Errötend senkte sie ob ihrer frechen Reden den verschleierten Kopf. Dennoch wartete sie weiter und blickte allen Passanten neugierig ins Gesicht.
Nem konnte nicht die Augen von ihr wenden. Inzwischen fand er die ganze Stadt so hässlich, dass es einfach eine Freude war, plötzlich etwas Hübsches zu sehen. Dennoch ließ er sich nicht beirren und hätte die Taverne betreten, ohne das Mädchen anzusprechen. Zu seinem Erstaunen kam sie auf ihn zu und vertrat ihm schüchtern den Weg.
»Verzeihung, mein Herr«, sagte sie mit lieblicher, leiser Stimme, »ich suche einen gewissen Nem?«
»Der bin ich«, bestätigte er überrascht.
Sie legte ihm die Hand auf den Arm. Er spürte, wie sie bebte.
»Oh, Gott sei Dank, ich habe dich gefunden. Ich hatte gehofft, dass du zurückkommen würdest. Es ist nämlich … siehst du … Ach! Wie soll ich es nur sagen? Ich schäme mich so!«
Sie schob die Hände unter den Schleier, schlug sie vors Gesicht und begann zu schluchzen.
Nem war völlig durcheinander. Er hatte noch nie eine Frau weinen sehen und wusste damit nicht umzugehen. Hilflos starrte er sie an, hatte aber Angst, sie zu berühren.
»Ich hole Hilfe«, bot er an.
Ohne dass er wusste, wie ihm geschah, hatte das Mädchen beide Arme um ihn geschlungen. Bleich und voller Entsetzen schlug es die Augen auf.
»Nein, tu das nicht! Bitte! Er kriegt es heraus, und dann bringt er mich um! Ach, wie unglücklich ich bin!«
Wieder begann sie zu weinen. Nem hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Lieblich, warm und tränenreich klammerte sie sich an ihn. Er war wie vom Donner gerührt.
»Ich muss mit dir reden«, sagte sie schließlich. Jedenfalls vermutete er dies. Durch das Schluchzen und die dichten, blonden Locken war sie schwer zu verstehen. »Aber nicht hier. Ich will nicht, dass er uns zusammen sieht. Geh zur Plaza. Warte am Brunnen auf mich.«
Sie löste sich von ihm und schob ihn weg.
»Geh jetzt!«, flehte sie. »Um meinetwillen. Wir treffen uns am Brunnen.«
Sie zog den Schleier wieder über das Gesicht, sah sich voller Schrecken um und hastete die Straße hinunter.
Befremdet, von ihrer Schönheit bezaubert und davon überzeugt, dass dieser seltsame Auftritt etwas mit seinem Geld zu tun hatte, tat Nem, wie sie ihm geheißen hatte. Er ging zur Plaza hinüber, wo Frauen und Kinder mit Eimern am Brunnen anstanden, um Wasser zu schöpfen. Als er über den Platz schlenderte, gesellte sich das Mädchen bald zu ihm. Es führte ihn zu einer Steinmauer unter einer großen Linde, die gerade begann, ihre gelben Blätter abzuwerfen. Dort setzte sie sich und lud ihn mit einem Klopfen an die Mauer und einem schüchternen Blick ihrer braunen Augen ein, sich neben sie zu setzen.
Nie hatte Nem solche Schönheit gesehen. Die blonden Haare fielen in glänzenden Kringeln bis zur Taille. Ihre großen Augen blickten voller Arglosigkeit in die Welt. Er schien ihr direkt ins Herz blicken zu können. Wenn sie lächelte, zeigte sich ein Grübchen auf einer Wange. Ihre Hände und Füße waren fein und zart wie die einer Dame, doch ihr schlichtes, sauberes Kleid deutete nicht auf eine Adlige hin.
Sie klappte den Schleier hoch. Nem sah den Bluterguss auf ihrer Wange.
»Jemand hat Euch geschlagen!«, stellte er fest.
Errötend ließ sie den Schleier wieder sinken.
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