Das verbotene Land 2 - Drachensohn
»Ach, das ist nichts«, sagte sie eilig.
»Wer war das?«, wollte Nem wissen.
Sie schüttelte den Kopf und legte ihm wieder eine Hand auf den Arm. Jetzt war er derjenige, der bei ihrer Berührung zitterte.
»Achte bitte nicht darauf. Wir haben nicht viel Zeit. Ich heiße Evelina. Mein Vater«, sie stockte, biss sich auf die Lippe und sprudelte dann damit heraus, »ist der Mann, der dich gestern Abend ausgeraubt hat.«
Verwundert starrte Nem sie an. Was sollte er nun entgegnen?
Sie senkte den Kopf. Eine Träne lief über ihre geschundene Wange und tropfte auf seinen Arm. Sie war kühl, doch sie brannte so sehr, dass er zusammenzuckte.
»Ganz stolz hat er damit geprahlt! Ich konnte nicht fassen, dass er zu so etwas fähig ist. Ich habe ihn beschworen, dir das Geld zurückzugeben, aber er hat sich geweigert. Dann habe ich versucht, es ihm abzunehmen, aber … aber er …« Sie schluckte und schüttelte den Kopf.
»Er hat Euch geschlagen!«, folgerte Nem grimmig.
Ihre Hand krampfte sich um seinen Arm. »Papa ist kein schlechter Mensch«, beschwor sie ihn flehentlich. »So etwas hat er noch nie getan! Wir haben kein Geld. Dennoch«, fügte sie hinzu und hob den Kopf. Ihre Augen blitzten. »Lieber verhungere ich, als Brot zu essen, das von geraubtem Geld gekauft wurde. Und deshalb will ich dir helfen, es wieder zu erlangen.«
»Sagt mir einfach, wo ich Euren Vater finde«, beschloss Nem finster. »Ich halte Euch da raus.«
»Darauf kommt es nicht an«, erwiderte sie und lehnte sich an ihn.
Ihre Bewegung ließ den Schleier von ihrem Haar gleiten. Sie schien nur aus Rosenduft und blasser Haut, berauschender Fülle und Schatten unter dem Hemd zu bestehen.
»Besonders jetzt, nachdem ich dich gefunden habe. Ich will dir helfen, aber ich will auch meinen Vater retten. Weißt du, welche Strafe auf Diebstahl steht? Hängen! Sie werden ihn hängen! Armer Vater. Du wirst ihn doch nicht anzeigen, nicht wahr? Versprich es mir!«
»Ich verspreche es«, gelobte Nem. »Beruhigt Euch bitte, werte Herrin.«
»Nicht Herrin«, widersprach sie scheu. »Ich bin doch keine feine Dame. Ich heiße Evelina.«
»Evelina«, wiederholte er. Eigentlich hätten jetzt die Spatzen, die zu seinen Füßen pickten, ein Lied anstimmen müssen.
»Ich habe folgende Idee«, begann das Mädchen. »Vater und ich werden die Stadt heute Nacht verlassen. Wir gehen nach Ausden. Dort soll es Arbeit geben. Vater wollte schon heute los, aber ich sagte, ich hätte noch etwas zu erledigen. Er wollte weg, weil er Angst hatte, der Sheriff könnte nach ihm Ausschau halten. Darum ist er vorgegangen. Wir treffen uns an einem kleinen Schrein an der Straße nach Osten. Er wird allein sein. Wenn du mich begleitest, sorge ich dafür, dass du dein Geld zurückbekommst. Aber du musst mir versprechen, dass du alleine kommst und …« Ihr Kinn zitterte, »dass du ihm nicht so wehtust.«
»Ich werde ihm überhaupt nichts tun«, versicherte Nem. »Ich will nur mein Geld. Wir brauchen es, sonst kommen wir nicht durch den Winter.«
»Gott segne dich!«, strahlte Evelina. Sie drückte seinen Arm. »Bei Sonnenuntergang sehen wir uns hier wieder.«
Sie schlug den Schleier vors Gesicht, lächelte ihm zu und spazierte mit einem letzten Winken davon. Er sah ihr nach, bis er sie in den vollen Straßen aus den Augen verlor. Wie im Traum verließ er den Platz und schlug automatisch den Weg zum Messegelände ein.
Auf halbem Wege jedoch machte er Halt. Er wollte jetzt nicht ins Zelt zurück und dort Bellona begegnen. Und ganz bestimmt wollte er ihr nicht erzählen, was eben geschehen war, insbesondere nicht von Evelina. Nem wollte Evelinas Gesicht und ihre Worte unverfälscht in sich bewahren, damit sie in seinem Inneren tanzen und strahlen konnte wie die Magie. Wie Magie hielt er mit den Händen der Seele ihr Bild, das sein Blut in Wallung brachte.
So nahm er einen anderen Weg. Er ging zu den dicken Bäumen des Waldes hinüber, wo er sich zu Hause fühlte. Dort setzte er sich unter die Zweige und behielt die Sonne im Auge. Sie schien so widerwillig vom Himmel zu weichen, dass er sich mehr als einmal ungeduldig fragte, ob sie womöglich stehen geblieben war.
15
Lange vor Sonnenuntergang kehrte Nem auf die Plaza zurück. Er setzte sich an die Mauer beim Brunnen und sah ungeduldig zu, wie die Sonne über den Schornsteinen ausharrte. Quälend langsam sank sie zu den Dachfirsten herab, hing eine Ewigkeit hinter den Häusern, bis sie schließlich in den See ihres eigenes Glanzes
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