Das verbotene Land 2 - Drachensohn
Evelina setzten ihre Fahrt durch die Höhle fort. Unwillkürlich blickte Nem dem verhüllten Mädchen nach. Sie sah sich nicht um, sondern hielt den Kopf gesenkt.
Der Mönch mit dem Boot, in dem Nem und die Schwester saßen, ruderte zum Ufer. Der Fremde musterte Nem, der diesen Blick kühn zurückgab.
»Ich bin Grald«, stellte der Hüne sich vor. »Ich diene deinem Vater, dem Drachen.«
Du bist mein Vater, der Drache, dachte Nem, sprach das aber nicht aus. Im Hinterkopf hatte er Bellonas Geschichte von der Vergewaltigung seiner Mutter und ihre Beschreibung von dem Menschenmann, der das Gefäß für den Drachensamen gewesen war. Nem hatte keine Ahnung, wie der Drache von einem Menschenkörper Besitz ergreifen konnte. Diese Frage hätte Drakonas ihm beantworten können, wenn Nem ihm zugehört hätte. Doch es hatte ihn nie interessiert. Jetzt merkte er, dass er an seinen Schuppen kratzte, und hörte sofort damit auf.
»Ich bin Nem«, erwiderte er. »Und ich diene niemandem.«
»Wir alle dienen dem Drachen«, begann die Schwester vorwurfsvoll.
Grald gebot ihr zu schweigen. »Nem«, wiederholte der Mann mit einem etwas höhnischen Grinsen. »Ein seltsamer Name.«
Der Junge zuckte mit den Schultern. »Jedenfalls heiße ich so.« Wofür der Name stand, würde er jetzt nicht erklären.
»Und wie heißt dein Bruder?«, erkundigte sich Grald wie beiläufig.
»Mein Bruder?« Nem war überrascht. »Ich habe keinen …«
Da begriff er.
Ein kleiner Raum. Ein kleiner Stuhl. Seine Mutter mit einem Kind an der Hand. Das Kind streckte die Hand nach Nem aus, lud ihn in den Raum ein, um mit den Regenbogen zu spielen …
»Es hat dir niemand gesagt«, stellte Grald fest.
»Nein«, bestätigte Nem.
»Aber ihr habt Kontakt.«
»Nein.«
Der Drache umschnüffelte die Höhle in Nems Innerem. Wut verdüsterte Nems Farben, denn dieses Verhör passte ihm nicht. Doch er schlug nicht zurück, denn nur darauf war der Drache erpicht. Schlag zu. Komm raus. Komm heraus aus deinem Bau. Nem hielt ganz still. Der Drache kratzte an den Felsen, die Nem vor dem Eingang aufgetürmt hatte. Irgendwo musste es einen Riss geben. Aber der war nicht zu entdecken.
Drachen verbringen Jahre mit dem Ausbau ihres Horts, dessen labyrinthartige Gänge den Eindringling verwirren und dessen Fallen ihn vom Weitergehen abhalten sollen. Ebenso hatte Nem jahrelang daran gearbeitet, seinen eigenen, inneren Zufluchtsort zu schützen. Seit dem Tag, an dem er jenen Mann getötet hatte, hatte er seine Magie nicht mehr verwendet. Stattdessen hatte er sich in der Mitte seiner Höhle verborgen, wo ihn niemand finden konnte. Nem schloss alle aus, Bellona, Drakonas, seine Mutter und den Drachen.
Und den Bruder, von dem er nie und doch immer gewusst hatte. Umgeben von Weiß, der Abwesenheit aller Farben stand Nem allein in der Mitte seines Zufluchtsorts.
»Willst du deinen Bruder nicht kennen lernen?«, wollte Grald wissen.
»Muss nicht sein«, antwortete Nem.
Grald begleitete sie zu ihrem Ziel, das angeblich nicht weit entfernt lag. Nem hatte nicht einmal gefragt. Seine Rechtschaffenheit schien sowohl Grald als auch die Schwester zu irritieren. Er sah, dass sie heimlich Blicke wechselten. Grald runzelte die Stirn, die Nonne zuckte mit den Schultern.
Die Höhle im Wasser hatte auf der Rückseite einen Ausgang, durch den der Fluss hinausströmte. In einem schmalen Bett wand er sich durch einen dichten Wald. Die Wurzeln der Bäume am Ufer ragten ins Wasser, und ihre Zweige überschatteten den Strom, bis sie einander berührten. Es war, als wären sie aus der Steinhöhle in eine Höhle aus Blättern geraten. Die grünen Wände waren ebenso düster und still wie der Fels. Die Luft unter dem Geäst war feucht und still. Das einzige Geräusch stammte von den Rudern, die ins Wasser tauchten, herausgehoben wurden, wieder eintauchten.
Grald ruderte in seinem eigenen Boot mit schnellen, kräftigen Schlägen voran, so dass der Mönch in dem Boot mit Nem und der Schwester Mühe hatte, mit ihm mitzuhalten. Sie legten jedoch keine weite Strecke zurück. Nach einer Biegung trafen sie auf die anderen Mönche, die mit Evelina am Ufer auf sie warteten. Die Männer hatten ihre Boote aus dem Wasser gezogen und säuberlich am Nordufer aufgereiht. Evelina stand bei den Booten, neben ihr ein Mönch. Nem hoffte, sie würde aufblicken, doch sie sah nicht zu ihm hin. Er bemerkte, dass auch Grald sie musterte, und zwar sehr genau.
Nem stieg aus dem Boot und half dem Mönch, es an Land zu
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