Das verbotene Land 2 - Drachensohn
war.
»Alles zu seiner Zeit«, meinte sie schließlich leichthin. Schweigend setzte sie ihren Weg fort.
»Wo gehen wir überhaupt hin?«, erkundigte er sich. Irgendwie musste er etwas über Evelina herausfinden.
»Wir gehen zu einem Ort, den man hier die Abtei nennt. Er wird dir gefallen. Es ist eines der ältesten Gebäude von Drachenburg. Du wirst im Gästehaus wohnen. Die junge Frau, die dich interessiert, hat dort ebenfalls ein Zimmer bekommen.« Das wissende Lächeln der Nonne hatte etwas Verschlagenes. »Gleich neben deinem.«
Nem hasste dieses Lächeln ebenso wie er sich selbst dafür hasste, dass es ihm nicht gleichgültig war. Doch er konnte nichts dagegen tun. Evelina war die einzige Farbe in seinen Gedanken. Wie ein Blutfleck im Schnee.
23
Evelina saß in einem Raum ohne Fenster auf einem Stuhl. Draußen hörte sie es donnern. Ein Sturm braute sich zusammen. Sie hatte die Blitze zwischen den Wolken zucken sehen, ehe die Mönche sie in das hässliche Haus geschleppt hatten. Man hatte sie hierher gebracht und in das Zimmer geschoben. Steif und verängstigt blieb sie einfach sitzen. Sie rührte sich nicht vom Fleck, beobachtete die Tür und wartete, dass die Mönche wiederkämen und sie einem schlimmen Los zuführten.
Eine halbe Stunde verstrich.
Eine volle Stunde verging, doch niemand kam.
Evelina stand auf. Zögerlich schlich sie zur Tür, legte ein Ohr daran und lauschte. Im Gang war nichts zu vernehmen. Versuchsweise drückte sie den schmiedeeisernen Türgriff und war über alle Maßen erstaunt, als die Tür sich tatsächlich öffnete. Sie war davon ausgegangen, dass man sie hier eingeschlossen hatte.
Schnell schlug Evelina die Tür wieder zu. Hoffentlich hatte niemand sie gesehen. Doch es kam keiner, und endlich wagte sie, das Unvorstellbare zu denken: Sie war allein – und sie war frei. Nachdem sie sich etwas beruhigt hatte, öffnete sie die Tür einen Spaltbreit und spähte hinaus.
Draußen lag ein kurzer, schmaler Gang, von dem fünf Türen abgingen, zwei auf der einen Seite, drei auf der anderen. Am Ende des Gangs lag die Treppe zum ersten Stock. Die Mönche hatten gesagt, dies sei das Gästehaus der Abtei. Evelina hatte geglaubt, »Gästehaus« sei nur ein ironischer Ausdruck für ein Gefängnis, doch nun hatte sie den Eindruck, sich tatsächlich in einem Gästehaus zu befinden. Als sie die Tür untersuchte, stellte sie fest, dass es überhaupt kein Schloss daran gab, nur einen Riegel, der die Tür geschlossen hielt.
Nichts, was sie einsperren könnte.
Mit einem Auge zur Treppe schielend schlich Evelina aus dem Zimmer und rannte auf die gegenüberliegende Tür zu. Zuerst lauschte sie, doch als sie nichts hörte, machte sie die Tür auf. Der Raum sah genauso aus wie ihr eigener. Er war mit einem Bett und mit einer strohgefüllten Matratze möbliert. Hinzu kamen zwei Stühle, ein kleiner Tisch, ein Kamin und ein Unrateimer. Er schien nicht bewohnt zu sein.
Zwei der übrigen Zimmer sahen ebenso aus wie ihr eigenes. Die Tür zum fünften Zimmer, das gleich neben ihrem lag, unterschied sich von den anderen, denn sie hatte ein Schloss. Evelina konnte nicht hineinsehen. So kehrte sie in ihren eigenen Raum zurück und machte die Tür wieder zu. Sie nahm den grässlichen Nonnenschleier ab, warf ihn auf den Boden und setzte sich, um zu überlegen, was sie als Nächstes tun sollte.
Sie hatte sich rasch von dem Schock erholt, dass ihr Liebhaber und ihr Vater offenbar vom Zorn des Himmels erschlagen worden waren. Evelina verschwendete nicht viel Zeit damit, sie zu betrauern. Als Liebhaber war Federfuß rücksichtslos gewesen. Um ihren Vater tat es ihr schon eher Leid. Immerhin war er der einzige Mensch gewesen, dem sie je wirklich vertraut hatte, weil sie ihn so leicht hatte manipulieren können. Ganz besonders machte ihr der Verlust ihrer Träume zu schaffen. Sie weinte um die Pläne, die zunichte gemacht worden waren, und dafür machte sie Nem verantwortlich.
Über die seltsamen Mönche und deren erschreckende Fähigkeit, mit bloßen Händen Feuer und Verderben zu bringen, dachte sie gar nicht nach. Ihr ging es in erster Linie darum zu überleben. Also konzentrierte sie sich – wie schon ihr ganzes Leben – ausschließlich auf dieses eine Ziel. Evelina war ein oberflächlicher Mensch, der sich an alles klammerte, was ihn an der Oberfläche hielt und notfalls auch selbst zuschlug. Wozu sollte sie in die Tiefe blicken? Dort gab es nur dunkles Wasser – was hätte sie schon davon?
Bei den
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