Das verbotene Land 3 - Drachenbruder
Mensch, halb Drache, das unbedingt ganz Mensch und gar kein Drache sein wollte.
Mit einem Satz sprang Nem ans Fenster, als könnte er hinausspringen. Er hielt sich an der Brüstung fest, starrte in die Nacht hinaus, holte tief Luft und stieß zischend einen Namen aus:
»Drakonas!«
Unter seinen Augen schraubte sich der Drache in die Höhe. Drakonas floh aus Drachenburg. Er ließ Nem zurück.
Am liebsten hätte Nem nach Drakonas gerufen und die weiße Leere seiner Höhle mit dem Goldrot von Drakonas' Namen gefärbt. Aber er zügelte sich. Nur einmal in seinem Leben hatte er um Hilfe gerufen. Damals hatte Grald reagiert. Er würde nie wieder um Hilfe bitten.
Der Drache verschwand in einer Wolkenbank, wo Nem ihn aus den Augen verlor. Dennoch suchte er unablässig den ganzen Himmel ab. Vergebens. Über ihm ballten sich dicke Wolken zusammen, und es begann erneut zu regnen. Auch als er sich waghalsig aus dem Fenster lehnte und den Körper verdrehte, um nach oben blicken zu können, sah er nichts. Inzwischen regnete es kräftiger. Die Tropfen landeten auf seinem bloßen Kopf. Nem schob sich wieder ins Zimmer, beobachtete aber weiterhin den Himmel.
Seine Geduld zahlte sich aus. In den Wolken tat sich eine Lücke auf, die Nem einen guten Blick auf den Drachen gewährte.
Der schraubte sich jetzt vom Himmel herunter auf eine Klippe auf halber Höhe der Bergflanke, wo er kurz zu erkennen war, ehe die Wolken den Berg wieder verhüllten.
Nem löste sich vom Fenster. Jetzt lief er nicht weiter umher. Seine Energie war verbraucht. Er musste immer noch nachdenken, aber das konnte er auch im Bett.
Das Letzte, was Nem von Drakonas gesehen hatte, war dessen Silhouette, die von einem Blitz erhellt wurde. Dann hatte der Drache den Kopf gesenkt und die Flügel angelegt, um in den Berg einzudringen.
14
Für Drakonas war es ein Leichtes, den Hinterausgang des Drachenhorts zu finden. Schon beim ersten Überfliegen sah er das klaffende Loch auf der Südseite des Berges. Grald hatte sich nicht die geringste Mühe gegeben, diesen Zugang zu verbergen oder zu tarnen. Entweder war er ein überaus fauler Drache oder äußerst eingebildet.
Oder sehr berechnend.
Ein so offensichtliches Tor konnte eine Falle sein.
Angesichts dieser Möglichkeit betrat Drakonas die Höhle mit äußerster Vorsicht. Die Öffnung war recht klein. Er musste sich flach auf den Boden legen und die Flügel an die Flanken drücken, um sich hindurchzuquetschen. Dabei scheuerten seine Schultern an den Höhlenwänden entlang. Er konnte sich nur vorsichtig bewegen, sonst hätte er vielleicht einen Flügel zerrissen. Beim Eindringen musterte er aufmerksam die Wände. Wenn Grald in Drachengestalt hier gewesen war, musste Drakonas Spuren von ihm sehen – abgeschabte Schuppen an den Wänden oder Klauenscharten im Felsboden.
Aber davon war nichts zu sehen. Drakonas bezweifelte, dass in den letzten Jahren hier ein Drache durchgekommen war, vielleicht noch niemals, seit dieser Zugang entstanden war. Die Guanomengen auf dem Boden deuteten eher darauf hin, dass diese Höhle allein den Fledermäusen gehörte.
Vermutlich hatte Drakonas beim Betreten eine Art Alarm ausgelöst, denn kein Drache, der klar bei Verstand war, würde einen Hintereingang unbewacht lassen. Grald hatte bestimmt ein magisches Netz gesponnen, das ihn auf Eindringlinge aufmerksam machte. Dieses Risiko war Drakonas bewusst gewesen, als er in die Höhle kroch, doch er hatte es auf sich genommen. Immerhin bestand die Möglichkeit – oder die Hoffnung –, dass Grald gerade nicht in seinem Hort war. Er konnte mit seinem Menschenkörper anderswo sein.
Die Höhle wurde zu einer Art Schlauch, der ein Stück weit gerade in den Berg hineinführte, ehe er sich wieder weitete. Hier konnte Drakonas den Kopf heben und die Flügel ausbreiten. Er schüttelte sich einmal durch, dass die Schuppen rasselten, und holte tief Luft. Es stank nach Fledermaus. Bei Anbruch der Nacht waren die Tiere ausgeflogen, aber das hier war offenbar ihre Schlafkammer. Trotz des Gestanks atmete Drakonas tief durch. In seiner wahren Gestalt, als Drache, fühlte er sich immer wohler, und in seinem natürlichen Lebensraum, einer Höhle, ebenfalls.
Im Gegensatz zu Grald, Maristara und Anora, die sich echter Menschen bemächtigt hatten, war Drakonas' Menschenkörper nur eine Illusion, doch manchmal glaubte er, in diesem schwachen, weichen, schutzlosen Körper festzusitzen. Auch das war Teil der mächtigen Illusion, mit der er belegt war. Der
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