Das verbotene Land 3 - Drachenbruder
dichte Blattwerk der umstehenden Bäume fiel, aber bald von der Nacht verschluckt werden würde. Nem hörte, wie Bellona ihn rief, doch er rührte sich nicht. Hier konnte sie ihn nicht erreichen. Das konnte niemand.
Er hörte das Schlagen der Drachenflügel vor der Höhle, aber das spielte keine Rolle. Bis der Drache kam, würde er weg sein.
Das Mädchen kam in die Höhle spaziert. Es hockte sich neben ihn auf die Fersen und sah ihm forschend ins Gesicht.
»Geh weg«, forderte Nem es müde auf. »Ich habe getan, was du wolltest. Ich habe getan, was alle wollten.«
»Und jetzt willst du aufgeben und sterben?«
»Was geht dich das an?«
»Und was ist mit Markus? Du hast ihn um Hilfe gebeten, und er hat sie dir gewährt. Jetzt sind er und sein Reich in Gefahr.«
»Das ist sein Problem«, gab Nem zurück. »Er hat zwei Menschenbeine und ein hübsches Menschengesicht. Ihm wird schon jemand helfen.«
»Du hast das Heer der Drachenkrieger gesehen. Du weißt, dass dein Bruder und sein Volk nicht gegen sie bestehen können.«
»Wird es meinem Bruder denn besser gehen, wenn ich an seiner Seite stehe, um mit ihm zu sterben?«, fragte Nem verstimmt.
»Ich bitte dich nicht, für ihn zu sterben, Nem.« Kopfschüttelnd beugte Drakonas sich vor. »Ich bitte dich zu leben. Im Königreich Seth, dem Reich deiner Mutter, gibt es Menschen, die wissen, wie man in solchen Kriegen kämpft. Menschen, die seit Jahrhunderten Drachen abwehren. Die ganze Zeit kämpften sie aus dem falschen Grund, aber das spielt keine Rolle. Geh zu ihnen, Nem. Erzähl ihnen die Wahrheit. Jetzt kannst du gefahrlos dorthin gehen. Maristara ist nicht da.«
Nem lächelte. »Ein guter Plan, Drakonas. Aber das ist Wunschdenken. Ich liege im Sterben, das weißt du. Und du kannst mich nicht retten. Diesmal nicht.«
»Nem«, rief Drakonas.
Der junge Mann schloss die Augen und machte sie nicht wieder auf. Irgendwann zog das Mädchen sich zurück.
»Nem …« Wieder sagte jemand seinen Namen. Das war Bellona. In all den Jahren hatte sie seine Höhle nicht gefunden. Jetzt war sie hier. Streng und ohne zu lächeln betrachtete sie ihn. Sie schwieg. Aber er wusste, dass sie stolz auf ihn war. Zum ersten und vielleicht einzigen Mal im Leben hatte er sie mit Stolz erfüllt. Bellona nickte ihm kurz zu. Dann war sie verschwunden und Nem wieder allein.
Er hatte keine Angst.
Er fühlte nichts mehr.
Nem ließ sich in die Dunkelheit sinken, die ihn davontrug, wie der Fluss Bellonas Körper zum Meer getragen hatte.
Herzeleid starrte in das Abbild dessen, was der Mensch, Markus, ihr gezeigt hatte. Sie dachte über seine Worte nach. Was sollte sie tun? Schließlich erhob sie sich von ihrem Lager und ging in die Nachbarhöhle. Obwohl sie auf leisen Sohlen hindurchschlich, war ihr Bruder sofort hellwach. Luciens geschlitzte Augen waren bereits offen.
»Du hast im Schlaf geredet«, sagte er.
»Ich habe nicht geschlafen«, widersprach Herzeleid.
»Wer war dann hier? Mit wem hast du gesprochen?« Er sah sie genauer an. In der Dunkelheit schimmerte ihr Gesicht. Da stand auch er auf. »Was ist denn, Herzeleid? Was ist los?«
Lucien war von allen ihren Geschwistern am drachenähnlichsten. Er hatte Drachenarme und Klauen, Drachenbeine und Tatzen. Sein Körper war wie der eines Menschen, doch über die Schultern zog sich ein Schuppenstreifen, der noch ein Stück über Nacken und Kopf hinauflief. Sein Gesicht war das eines Menschen, aber er hatte geschlitzte Pupillen wie ein Reptil. Lucien war schnell und stark. Da er nach Herzeleid der Zweitälteste war, war er auch ihr engster Vertrauter.
»Komm mit«, forderte sie ihn auf. »Aber sei leise. Ich will nicht alle aufwecken.«
Ihr Bruder stellte keine Fragen. Weil er sie kannte, ging er davon aus, dass sie für diesen mitternächtlichen Spaziergang einen guten Grund hatte.
Während sie durch die verschlungenen Gänge des Drachenhorts liefen, teilte Herzeleid ihrem Bruder das Bild von Nems Menschenbruder mit, seine Worte und die Gedanken. Die Szene, die Lucien plötzlich vor Augen hatte, entsetzte ihn so sehr, dass er beinahe gegen eine Wand gelaufen wäre.
»Ich glaube nicht, was er über unseren Vater sagt, Herzeleid. Der Mensch lügt.«
»Ich glaube es auch nicht. Deshalb müssen wir dorthin.«
»In die Abtei?«
Herzeleid nickte. Hier unten war es dunkel, doch ihre Augen und die ihres Bruders fanden sich zurecht. In den gewundenen Felsengängen kamen sie schnell voran. Sie redeten nur über ihre Gedanken, die sich
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