Das verbotene Land 3 - Drachenbruder
dann stolzierte sie sehr gerade und auf steifen Beinen zum Sarkophag. Sie warf nur einen kurzen Blick hinein, ehe sie sich abwendete.
Langsam und unter Schmerzen kam Nem hoch. Er hinkte zum Leichnam des Drachen und musterte ihn. Schließlich fand er, was er suchte. Es war um eine der blutigen Klauen gewickelt. Nem nahm das goldene Medaillon und trug es zum Grab. Dort öffnete er es, so dass alle das Herz darin sehen konnten. Es hatte aufgehört zu schlagen. Mit dem Tod des Drachen war der Zauber gebrochen.
Er hielt Herzeleid das Medaillon vor die Nase.
Sie schlug die Augen nieder. Lucien würgte und erbrach sich.
»Du willst die Wahrheit wissen. Dann sieh sie dir an!«, beharrte Nem.
Herzeleid gehorchte. Sie warf einen Blick auf das geschrumpfte Herz und die gefolterte Leiche im Grab. In dem Gesicht des toten Menschen, Grald, las sie die Qualen und die Panik, die sich dort für immer eingegraben hatten.
Nem hörte, wie vor seiner inneren Höhle Flügel rauschten. Er spürte den heißen Wind von Maristaras Kommen. Daraufhin warf er das Medaillon in den Sarg und wandte sich zum Gehen.
»Wo willst du hin?«, fragte Herzeleid.
»Weg«, antwortete Nem.
»Das geht nicht!«
»Prima.« Nem drehte sich um. »Du hast mich ins Leben zurückgeholt? Was willst du jetzt mit mir anstellen? Hier stehen und warten, bis ich erneut sterbe? Auch gut. Entscheide dich einfach.«
Herzeleid zögerte. Sie schwankte noch. Lucien erholte sich wieder. Er war noch immer kalkweiß im Gesicht, kam jedoch zu ihr und beriet sich leise mit ihr.
Nem blieb abwartend stehen. Ihm war es wirklich gleichgültig, so oder so.
Schließlich kamen die beiden zu einer Übereinkunft.
»Du begleitest uns«, entschied Herzeleid.
Lucien packte Nem unsanft am Arm und kratzte ihn dabei mit seinen Krallen.
Achselzuckend ergab sich Nem. Er fragte nicht erst, wohin sie wollten. Er wusste es bereits. Die Drachenkinder hatten nur einen Platz, zu dem sie gehen konnten, nämlich zurück in den Hort, wo sie geboren waren und ihr ganzes Leben verbracht hatten. Er fragte auch nicht, was sie mit ihm vorhatten, denn das war ihm egal.
Seine Geschwister führten Nem zwischen sich. Sie hielten ihn von beiden Seiten gut fest, obwohl er widerstandslos mitkam. Sie sprachen mal mit ihm, mal über ihn, doch er passte kaum auf. Er hörte nur das Klicken ihrer Klauen auf dem Fels – drei Paar Klauenfüße, seine eigenen und die seiner Geschwister. Sie machten einen ziemlichen Lärm, denn sie gingen nicht im Gleichschritt. Wie gebannt lauschte er dem Klickediklack.
»Was sollen wir mit ihm machen?«, wollte Lucien wissen, während sie den Gang von der Abtei in den Hort durchwanderten.
»Wir verstecken ihn«, schlug Herzeleid vor. »Hinter Illusionen.«
»Sie werden ihn suchen kommen«, wandte Lucien ein.
»Doch nicht bei uns«, beruhigte Herzeleid. »Uns haben sie nicht im Verdacht. Warum auch? Sie werden annehmen, dass er zu den Menschen zurückgerannt ist. Man wird die ganze Stadt und das Umland durchsuchen. Wir sind die Letzten, die sie verdächtigen werden.«
Diese Entscheidung hinterfragte Lucien nicht näher. Sie liefen weiter.
»Was sagen wir den anderen Kindern?«, erkundigte er sich etwas später. »Über Grald.«
»Nichts«, gab Herzeleid brüsk zurück. »Wir sagen ihnen gar nichts. Den Kleinen könnte man es ohnehin nicht erklären«, fügte sie mit zitternder Stimme hinzu.
»Das stimmt«, nickte Lucien. »Wenn nicht einmal wir es verstehen. Unser Vater hat Menschengestalt angenommen.«
»Sag das nicht!«, rief Herzeleid. Wütend funkelte sie ihn an. »Sag das niemals wieder!«
Ihr Bruder wirkte so verletzt, als hätte sie ihn geschlagen. Nach einem Augenblick des Schweigens fuhr er fort: »Was machen wir jetzt, Herzeleid? Du und ich und die anderen?«
»Wir schaffen das schon«, versicherte sie ihm. »Nein, Lucien, keine Fragen mehr. Ich muss nachdenken.«
Da blieben die beiden wie erstarrt stehen. Nem, der ganz in Gedanken war, lief weiter. Mit einem groben Ruck brachte Herzeleid auch ihn zum Stehen. Da erst hörte er das, was auch die anderen gehört hatten.
Die Geräusche waren unverwechselbar – das Trampeln schwerer Klauenfüße, das den Boden erschütterte, die Bewegungen eines massigen Körpers, das pfeifende Atmen eines Drachen. Die Geräusche kamen von hinten, aus der Abtei.
»Der Drache aus Seth!«, flüsterten Luciens Gedanken in Nems Gehirn.
»Ich gehe zurück«, beschloss Herzeleid spontan.
»Und dann übergibst du ihn dem
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