Das verbotene Reich: Thriller (German Edition)
war mit einem Hubschrauber des Zentralkomitees nach Westen geflogen. Karl Tang war vor drei Stunden zuvor von Lanzhou aus ostwärts Richtung Xi’an aufgebrochen. Nis Gegner sollte also schon da sein. Auf dem Flug von Peking hatte er die Zeit dazu genutzt, die Unterlagen zu lesen, die sein Stab für ihn zusammengestellt hatte. Es ging um ein Thema, über das er wenig wusste.
Eunuchen.
Deren Zahl hatte je nach Epoche zwischen dreitausend und hunderttausend Verschnittene betragen. Aus chinesischer Sicht traten alle natürlichen Kräfte zyklisch auf, erreichten ihren Höhepunkt mit dem Yang und schwanden mit dem Yin wieder dahin. Männlichkeit, Kraft und Tugend waren immer mit dem Yang gleichgesetzt worden, während Frauen, Eunuchen und das Böse vom Yin regiert wurden. Ni hatte erfahren, dass es eine logische Erklärung für diese Zweiteilung geben mochte. Die chinesische Geschichte war von Mandarinen aufgeschrieben worden, der gebildeten Elite, die als Klasse die Palasteunuchen verachtete. Mandarine mussten sich nach Jahren harter Studien durch Prüfungen für ihre Stellung qualifizieren. Eunuchen erlangten ihren Einfluss ohne jede Ausbildung. Daher war es verständlich, dass die schriftlichen Aufzeichnungen, die erhalten geblieben waren, nur wenig Gutes über Eunuchen zu sagen wussten.
Es war nicht überraschend, dass sie häufig schlecht behandelt wurden. Wann immer sie einem Mitglied der kaiserlichen Familie begegneten, mussten sie sich als Sklaven erniedrigen. Sie begriffen früh im Leben, dass sie sich niemals Respekt als Gelehrte oder Staatsmänner verdienen konnten. Der Minderwertigkeitskomplex, der die Folge dieser Behandlung war, ließ sie Groll gegen jedermann empfinden. Sie lernten, dass sie im Alter, wenn sie nicht länger nützlich waren, nur überleben konnten, wenn es ihnen gelang, heimlich Reichtümer auf die Seite zu schaffen. Um diese anzuhäufen, mussten sie im Umkreis der Macht bleiben. Es wurde also zu ihrem obersten Interesse, in der Gunst ihrer Schutzherren zu bleiben und für deren Machterhalt zu sorgen.
Es gab jedoch fähige Eunuchen, die zu geachteten Beratern aufstiegen. Einige wurden große Persönlichkeiten. Tsai Lun erfand im zweiten Jahrhundert das Papier. Ssu-ma Chien wurde der Vater der chinesischen Geschichtsschreibung. Zheng He stieg zum größten Seefahrer auf, den China je hervorgebracht hatte, und baute im 15. Jahrhundert eine Flotte, die die Welt erkundete. Nguyen An, ein wahrer Renaissance-Mann, entwarf die Verbotene Stadt. Der fähige Feng Bao leitete im 17. Jahrhundert unter Kaiser Wanli die Geschicke der Nation. In derselben Zeit half Chen Ju, einen funktionierenden inneren Hof aufrechtzuerhalten, während der äußere Hof von Machtkämpfen verschiedener Fraktionen zerrissen wurd e. Für seine Dienste erhielt er nach seinem Tod die Ehrenbezeichnung: Rein und treu.
Seiner Lektüre entnahm Ni, dass die Kaiser einfach zu der Überzeugung gelangt waren, die Eunuchen seien zuverlässiger als ihre Hofbeamten. Eunuchen hatte man nie hochherzige Ideale gelehrt oder dazu aufgefordert, den Vorteil für die Allgemeinheit über den eigenen Nutzen zu stellen. Es ergab sich einfach, dass sie für den persönlichen Willen des Kaisers standen, während die Hofbeamten den entgegengerichteten politischen Willen der etablierten Bürokratie verkörperten.
Ein klassischer Zusammenprall der Ideologien.
Den die Eunuchen gewannen.
Und dann verloren.
Jetzt waren sie zurückgekehrt.
Und ihr Anführer erwartete Ni hier in Xi’an.
Tang betrachtete aufmerksam die Monitore des Sicherheitssystems. Das gesamte Museumsgelände war mit Kameras bestückt, welche die um die drei Gruben errichteten Hallen, den Ausstellungssaal, die Restaurants, das Informationszentrum, das Kino und sogar die Andenkenläden ständig überwachten.
Er blickte auf die Wanduhr und begriff, dass hier bald ein Hubschrauber landen würde. Das war nichts Ungewöhnliches. Regierungsbeamte, Würdenträger und sogar einige der Neureichen des Landes flogen regelmäßig zum Museum. Und auch das Militär transportierte Leute durch die Luft. Tang selbst war in einem Hubschrauber gekommen, der jetzt einen Kilometer entfernt am Außenrand des Museums auf einer Fläche stand, die als Landeplatz vorgesehen war.
Vierundzwanzig Bildschirme füllten die grünliche Wand in dem schwach erleuchteten, klimatisierten Raum eines Gebäudes aus, das zwei Kilometer vom Grabhügel entfernt stand. Es gehörte zu einem Verwaltungskomplex, der als
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