Das verbotene Reich: Thriller (German Edition)
allein einem Panzer entgegenstellt, wird ins Gedächtnis der Welt eingraviert bleiben. Das war eines der entscheidenden Bilder des 20. Jahrhunderts. Wie Sie genau wissen.«
Ja, das wusste er.
Er war damals dabei gewesen – an jenem 4. Juni 1989 –, als die Regierung die Geduld verloren hatte.
»Und wie hat Deng danach weitergemacht?«, fragte Pau. »Er hat so getan, als wäre das alles nie geschehen, und hat seine törichte Politik fortgesetzt.«
»Sonderbare Worte von einem Mann, der an dieser Politik beteiligt war.« Das musste Ni einfach sagen.
»Ich war an überhaupt nichts beteiligt«, entgegnete Pau, und nun lag zum ersten Mal Verärgerung in seiner Stimme. »Ich habe meine Zeit in der Provinz zugebracht.«
»Und Kostbarkeiten gestohlen.«
»Und Kostbarkeiten bewahrt .«
Das Video verstörte Ni noch immer. »Warum ist der Mann kastriert worden?«
»Er ist einer Bruderschaft beigetreten. Diese Initiation hat vor drei Monaten stattgefunden. Er ist inzwischen geheilt und arbeitet für die Brüder. Nach dem Eingriff durfte er drei Tage lang nichts trinken. Sie haben gesehen, dass der Helfer die Harnröhre des Mannes verschlossen hat, bevor er die Wunde mit feuchtem Papier verband. Am vierten Tag wurde der Verschluss entfernt, und als Urin herausfloss, betrachtete man die Operation als geglückt. Andernfalls wäre der Initiand eines qualvollen Todes gestorben.«
Ni konnte sich nicht vorstellen, dass irgendjemand sich freiwillig einem so abscheulichen Eingriff unterzog. Trotzdem war ihm klar, dass Pau recht hatte. Im Verlauf der chinesischen Geschichte hatten hunderttausende Männer genau das getan. Als die Ming-Dynastie Mitte des siebzehnten Jahrhunderts stürzte, waren mehr als hunderttausend Eunuchen aus der Hauptstadt vertrieben worden. Der Niedergang der Han-, Tang- und Ming-Herrschaft wurde jeweils den Eunuchen zugeschrieben. Die chinesische Kommunistische Partei hatte sie lange als Beispiel für zügellose Habgier angeprangert.
»Interessanterweise ist von den Hunderttausenden, die kastriert wurden, nur ein kleiner Prozentsatz gestorben. Noch so eine unserer chinesischen Innovationen. Wir sind recht gut im Verschneiden von Eunuchen.«
»Was für eine Bruderschaft?«, wollte Ni wissen. Seine Stimme klang gereizt.
»Sie heißt Ba.«
Von einer solchen Gruppe hatte Ni noch nie gehört. Hätte er darüber Bescheid wissen sollen? Seine Aufgabe war es, die Regierung und das Volk vor Korruptheit und Verdorbenheit zu schützen. Zur Erreichung dieses Ziels genoss er eine Autonomie, wie sie keinem anderen Amtsträger beschieden war. Er war dem Zentralkomitee und dem Parteigeneralsekretär direkt verantwortlich. Nicht einmal Karl Tang als Vize-Parteigeneralsekretär konnte hier eingreifen, obwohl er es versucht hatte. Ni hatte die Elite-Ermittlungseinheit auf Befehl des Zentralkomitees selbst gegründet und das letzte Jahrzehnt damit verbracht, sich einen Ruf der Ehrlichkeit zu erwerben.
Aber nie hatte er von einer Ba gehört.
»Was ist das für eine Bruderschaft?«, fragte er.
»Bei all den Mitteln, die Ihnen zur Verfügung stehen, können Sie sicherlich mehr über sie in Erfahrung bringen. Jetzt, da Sie wissen, wo Sie hinschauen müssen.«
Ni nahm ihm den herablassenden Tonfall übel. »Wohin denn?«
»Überallhin um Sie herum.«
Ni schüttelte den Kopf. »Sie sind nicht nur ein Dieb, sondern auch ein Lügner.«
»Ich bin einfach nur ein alter Mann, der mehr weiß als Sie – in sehr vieler Hinsicht. Was mir fehlt, ist Zeit. Sie dagegen sind ein Mensch, dem dieses Gut reichlich zur Verfügung steht.«
»Sie wissen doch gar nichts über mich.«
»Im Gegenteil. Ich weiß sehr viel. Sie sind vom Truppführer zum Zugführer und schließlich zum Kommandanten des Militärgebiets Peking aufgestiegen – eine große Ehre, die Offizieren vorbehalten bleibt, in die die Regierung großes Vertrauen setzt. Sie waren Mitglied der bedeutenden Zentralen Militärkommission, als der Parteigeneralsekretär persönlich Sie zum Leiter der Zentralkommission für Disziplinarinspektion ernannte.«
»Soll ich jetzt beeindruckt sein, dass Sie meinen offiziellen Lebenslauf kennen? Der steht doch für jeden einsehbar im Internet.«
Pau zuckte mit den Schultern. »Ich weiß noch viel mehr, Herr Minister. Sie sind jemand, für den ich mich schon eine ganze Weile interessiere. Der Generalsekretär hatte eine schwierige Entscheidung zu fällen, aber ich muss sagen, dass er mit Ihnen eine gute Wahl getroffen hat.«
Ni wusste
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