Das Verbrechen: Kommissarin Lunds 1. Fall
sein. Wollte die Gesichter der anderen sehen, wenn sie nachkamen, ihr folgten. Normalerweise funktionierte das. Ein letztes Mal leuchtete sie in die Ecke. Sanitärausstattung: Badewannen, Waschbecken, Toiletten, Bidets.
Sie fluchte, machte kehrt, steuerte auf den Ausgang zu, entschlossen, Meyer anzurufen, wütend auf sich selbst, weil sie so dumm war, so unüberlegt. Eine Gestalt huschte durch das Dunkel, von links nach rechts. Die Pistole blieb, wo sie war. Gesenkt. Die Waffe war nicht Lunds spontane Reaktion, würde es nie sein. Sie wollte erst reden. Wollte wissen.
»Holck …«
Wieder die Gestalt. Etwas in der Hand. Ein Kreuzschlüssel, vier stählerne Arme, wie eine mittelalterliche Waffe. Näher. Zu nahe. Sie hörte ihn. Hörte ihn ausholen. Die Pistole bewegte sich, nicht viel und nicht schnell. Er wich aus, und durch den Strahl der Taschenlampe flog etwas blitzend auf sie zu. Der harte Stahl traf Sarah Lund am Kopf, und sie sackte zusammen, fiel auf den harten Boden.
In dem Hotel in der Bredgade, nahe der Einkaufsstraße von Strøget, stiegen vorwiegend Geschäftsleute ab. Hundert Kronen für einen Scotch. Nicht viel weniger für ein Bier. Pernille saß an der Bar, neben sich ihre Tasche. Die dritte Station an diesem Abend. Und jedes Mal harte Sachen. Wie früher, als sie jung und nichts wirklich wichtig war. Als sie sich aus dem Haus schlich, in die verrufenen Viertel, die verbotenen Bars, um zu sehen, wohin die Nacht sie führte. Neben ihr ein Mann, über den sie damals nur gelacht hätte. Korpulent, selbstgefällig, braungebrannt, der Anzug eine Spur zu eng. Aber er zahlte.
»Ich hab eine eigene Firma«, sagte er und bestellte neue Drinks. »Aus dem Nichts aufgebaut.«
Sie waren die einzigen Gäste in der Hotelbar. Einheimische verkehrten hier nicht. Nur Besucher, in der Stadt gestrandet, einsam für die Nacht.
»Fünf Jahre hab ich dafür gebraucht.« Er war Norweger. »Jetzt hab ich dreißig Angestellte, eine Filiale in Dänemark und ein Werk in Vietnam.«
Der Fernseher lief. Von einer dramatischen Wendung im OB-Wahlkampf war die Rede.
Er rückte näher an sie heran, folgte ihrem Blick zum Bildschirm.
»Scheußlicher Fall. Steht sogar in Oslo in den Zeitungen.«
»Der Stadtrat wird heute über einen Wahlausschluss Hartmanns entscheiden«, sagte die Nachrichtensprecherin. »Er muss mit einer Anklage rechnen. Aus zuverlässiger Quelle erfahren wir jedoch soeben, dass es möglicherweise nicht …«
Er berührte sie am Arm.
»Bist du auch viel unterwegs?« Er lachte. »Jemand hat mal gesagt, ohne Reisen ist das Leben nicht lebenswert. Da hat er wohl nicht an Geschäftsreisen gedacht. Zwanzig Nächte pro Monat …«
Er prostete ihr zu.
»Aber manchmal kommt man mit einer netten Lady ins Gespräch, in einer netten Bar. Dann ist es gar nicht so schlecht.«
Er lächelte, fast anzüglich. Sie nahm einen tiefen Schluck. Sie mochte den Drink nicht besonders. Sie mochte nichts mehr besonders. Die Jungs. Lotte. Theis. Gefangen in dieser endlosen Suche, der Jagd nach einer Erklärung, einem Grund, war ihr Leben in einen seltsamen Schwebezustand geraten. Sie konnte nicht mehr schlafen, konnte nichts mehr fühlen, konnte nicht mehr lachen, nicht mehr klar denken. Pernille dachte an ihr früheres Ich, das hübsche junge Mädchen, das im dunklen, schmutzigen Vesterbro von Bar zu Bar geflattert war und die jungen Burschen angemacht hatte, bis sie den Richtigen gefunden hatte. Nichts war mehr wichtig. Weder damals noch heute. Sie betrachtete den Mann. Fragte sich, wie er in dem Alter gewesen sein mochte. Großspurig. Gutaussehend. Schwach und fügsam.
»Gehen wir auf dein Zimmer«, sagte sie.
Der Norweger starrte sie entgeistert an.
Pernille stand auf, nahm ihre Tasche. Mit zitternden Fingern griff er nach seinem Schlüssel.
»Setzen Sie’s auf die Rechnung«, sagte er zum Barmann und folgte ihr zur Tür.
Das Zimmer war nicht groß. Ein Doppelbett. Ein glänzender Tisch. Ein Laptop auf dem Schreibtisch. Geschmackloses Mobiliar, wie nur Hotels es anschafften. Er war aufgeregt, nervös, fingerte mit dem Schlüssel herum, tastete nach dem Lichtschalter. Auf dem Bett lagen Kleider. Ein Hemd. Unterhosen. Er raffte sie zusammen, warf sie in den Schrank.
»Ich wusste ja nicht, dass ich Besuch bekomme. Möchtest du was trinken?«
Das Zimmer war so groß wie Nannas. Nichts Persönliches darin. Nichts, woran Pernille sich erinnern würde.
»Als Student war ich Barkeeper im Grand Hotel in Oslo.«
Es klang,
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