Das Verbrechen: Kommissarin Lunds 1. Fall
zurück, packte sie an der Jacke, schleifte sie über den schmutzigen Boden. Das zerbrochene Handy.
»Das ist mein Handy!«, rief sie.
Sie waren jetzt am Heck des Wagens. Er sah sich nach etwas um. Einer Waffe. Um sie bewusstlos zu schlagen. Dann in den Kofferraum. In den Kanal. Wie Nanna.
»Das ist mein Handy. Nicht das Polizeihandy!«
Er hielt inne.
»Ich hab doch gesagt, die sind unterwegs. Das Polizeihandy ist im Auto.«
»Wo?«
Sie antwortete nicht.
Er nahm den Kreuzschlüssel, holte aus, fragte noch einmal, lauter: »Wo?«
»In meiner Tasche.«
Er stand vor ihr, den Kreuzschlüssel in der Hand.
»Nicht weglaufen«, sagte er lachend.
Eine Minute, vielleicht zwei. Lund robbte über den Boden, zu dem halbfertigen Schrank und dem Werkzeug.
Es gab kein zweites Handy. Kein magisches Leuchtfeuer, das die Polizei in diesen abgelegenen, halbindustriellen Teil der Stadt hätte führen können, in dem Holck allein in einem noch nicht fertiggestellten Wohnblock lebte. Das Gebäude gehörte Verwandten von ihm, die sich für den Winter nach Kapstadt abgesetzt hatten.
Nur eine Handtasche voller Kaugummis und Papiertaschentücher, Pfefferminzbonbons und anderem Kram.
Er durchsuchte sie. Wurde mit jeder Sekunde wütender. Riss das Handschuhfach auf. Fand nur Nicotinell-Packungen und Parkquittungen.
Er wusste nicht, warum er ihr das Foto von seiner Frau und seinen Kindern gezeigt hatte. Wusste nicht, warum er sie nicht sofort getötet, ihre blutige Leiche in den Heckraum des weißen Wagens gepackt hatte und weit hinaus in den Wald gefahren war, einen Fluss gesucht hatte, einen Kanal. Warum er Lund und den weißen Kombi nicht ins kalte Wasser gestoßen hatte, wo sie für immer versunken wären.
Verschollen. Unbemerkt. Vergessen.
Ein letzter Blick.
Er hatte Olav Christensen nicht überfahren wollen. Aber der widerliche Kerl hatte ihm keine Wahl gelassen. So war das Leben nun mal. Weit und breit keine Wahlmöglichkeiten. Nur eine lange Straße, die mit jedem Tag trostloser und enger wurde.
»Miststück.« Holck knallte die Wagentür zu, spuckte aus und ging in den schwarzen Schlund zurück, der in die Garage hinab und zu Lund führte.
Sie kroch über den Boden, auf das Sägemehl zu, das Werkzeug, den halbfertigen Schrank. Ein Hammer. Ein Meißel. Nägel, Schrauben und Dübel. Und eine Säge. Mit gefesselten Händen und zitternden Fingern umschloss sie den Griff, zog ihn heran, klemmte das Blatt zwischen ihre Knie. Begann die Plastikfessel zu bearbeiten. Ein Geräusch. Er war wieder da. Tastete irgendwo in dem Dunkel am Eingang herum. Bilder in Lunds Kopf. Ein Mann, der vorausdenkt. Dinge braucht. Dinge plant. Wieder ein Geräusch. Plastikrascheln. Ein schwarzer Sack, für eine Leiche im Kofferraum. Metallisches Klirren, Klinge gegen Klinge. Messer oder Sensen oder etwas anderes, das schneidet, eine Waffe, zusätzlich zu dem Kreuzschlüssel, Werkzeug für das Vorhaben. Schritte. Als Holck ins Licht trat, hatte er einen schwarzen Müllsack unter dem Arm und rollte ein Stück Industrieklebeband ab.
Nanna war lebend in den Kanal geschoben worden, aber wenigstens hatte sie den Mund frei gehabt und konnte schreien. Holck schritt vorwärts, bis hinter den Wagen. Sah sich um. Rief: »Miststück!«
Sah sich noch einmal um. Wie hatte er nur so dumm sein können? Holte eine Taschenlampe aus dem Kofferraum. Schaltete sie ein. Ein heller Strahl, ein Auge, das sie suchte. Wie der Jäger ein angeschossenes Stück Wild. Ein blendend weißer, tastender Strahl.
Fünf Minuten, zehn. In der Tiefgarage gab es so etwas wie Zeit nicht. Nur einen Mann mit einer Waffe und eine Frau, die er im Halbdunkel suchte. Lund, hinter einem Betonpfeiler versteckt, versuchte ruhiger zu atmen, kein Geräusch zu machen. Versuchte sich einzureden, dass ihre Drohungen nicht so leer waren, wie es schien. Dass jemand kommen würde. Obwohl sie allein hierhergefahren war. Niemandem etwas davon gesagt hatte. Nicht einmal Meyer. Irgendwie würde man sie finden. Vielleicht. Vielleicht.
Er stand bei den Zementsäcken, leuchtete über den Boden. Da sah sie es. Die Glock lag noch dort, wo sie sie hatte fallen lassen, als Holck sie mit dem Kreuzschlüssel niedergeschlagen hatte. Schwach schimmernd, nicht weit von dem weißen Kombi. Warten und hoffen. Oder handeln und siegen. Warum stellte sie die Frage überhaupt? Sie hatte doch gar keine Wahl. Er stand am anderen Ende des Kellers. Die Pistole nur vier Schritte entfernt. Vielleicht hatte er sie nicht
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