Das Verbrechen: Kommissarin Lunds 1. Fall
gesehen. Vielleicht fühlte er sich so mächtig, so sehr Herr der Lage, dass er keine Waffe brauchte, nur seine Kraft. Lund rannte los.
Nicht vier Schritte, sondern fünf. Sie machte einen Satz auf die Waffe zu, da sah sie ihn. Eine hohe Gestalt im Dunkeln. Hatte nur darauf gewartet. Die Waffe war ein Köder für Idioten, dachte sie, als Holck sich mit der linken Hand die Glock schnappte und ihr mit der rechten einen Fausthieb gegen den Kopf versetzte, sodass sie mit einem Aufschrei auf den Steinboden stürzte. Staub im Mund. Bitterkeit und Angst. Sie rappelte sich ein wenig hoch, kroch weiter, kniete halb vor ihm. Schaute auf und sah den Lauf der Glock direkt auf ihr Gesicht gerichtet. Ein Geräusch, aus einer anderen Richtung.
Ein Lichtstrahl.
»Keine Bewegung, Holck!«
Eine Stimme, die sie erkannte. Sie regte sich. Da schoss Holcks Stiefel vor und traf sie in den Bauch. Stöhnend wand sie sich auf dem Boden. Drehte sich um, sah ihn. Und er tat ausnahmsweise einmal, was man ihm beigebracht hatte. Weaver stance. Beidhändiger Anschlag, Schussarm fast durchgestreckt, vom leicht angewinkelten anderen Arm unterstützt. Waffe ruhig. Sorgfältig zielen.
»Die Waffe weg!«, rief Meyer.
Holck stand unsicher vor ihr, die Glock an ihrem Kopf.
»Werfen Sie die Waffe weg, Holck, um Himmels willen!«
Lund kauerte am Boden, sah den Mann nicht an. Dachte an Mark. Und Bengt. Und Nanna Birk Larsen.
»Werfen Sie die Scheißwaffe weg!«, brüllte Meyer.
Holck rührte sich nicht. Würde es auch nicht tun. Tod durch Polizei. Aber manchmal nahmen sie einen mit.
»Los, Holck! Die Waffe runter. Und Sie auch. Auf den Boden. Wird’s bald!«
Er sah sie an, und irgendwie spürte sie seinen Blick. Schaute ihm in die Augen. Die Glock senkte sich neben seine Beine. Er zitterte. Die Augen angstvoll aufgerissen. Verloren.
»Sagen Sie meinen Kindern …« Langsam, fast widerstrebend, hob er die Waffe wieder an ihren Kopf. Drei schnelle Explosionen, in der leeren, staubigen Garage widerhallend. Bei jeder sah sie ihn zucken, sah den Schmerz und den Schreck in seinen Augen. Es warf ihn rückwärts, dann lag er zusammengekrümmt auf dem Boden. Sie schlang die Arme um sich, wartete ab. Meyer kam näher. Vorschriftsmäßig. Taschenlampe auf den Mann, Pistole im Anschlag. Sie betrachtete die reglose Gestalt. Achtete auf Bewegungen. Sah keine.
Zehn Minuten später klammerten Sanitäter die Wunde an Lunds Hinterkopf. Eine Leiche in einem Leichensack, durch dessen Nähte Blut sickerte. Inmitten von Blaulichtgewitter und Sirenengeheul lehnte Jan Meyer an seinem Wagen, wie besessen rauchend, die Hände zitternd. Beobachtete Lund. Dachte nach. Fragte sich, auf wie viele verschiedene Weisen die Sache hätte enden können. Gab es andere Worte? Andere Tricks? Oder führte die Straße nur in eine Richtung, direkt auf das unausweichliche Ende zu?
Lennart Brix trat zu ihm. Blauer Regenmantel. Sorgfältig gebundener Burberry-Schal. Er hätte auch aus der Oper kommen können. Sah sich um und sagte dann: »Wie haben Sie hergefunden?«
Meyer schaute zu Lund hinüber, die mit ausdrucksloser Miene im Krankenwagen saß und die Sanitäter ihre Arbeit tun ließ.
»Genauso wie Lund. Ich hab seine Exfrau angerufen.«
Brix streckte die rechte Hand aus, Handfläche nach oben. Auch seine Lederhandschuhe hätten zur Oper gepasst. Meyer rauchte seine Zigarette zu Ende, warf sie ins Dunkel, richtete sich auf und zog seine Pistole aus dem Holster. Checkte das Magazin, nahm es heraus. Hielt die Pistole am Griff, Lauf nach unten, legte sie in Brix’ behandschuhte Hand. Dann das Magazin.
»Es wird eine Untersuchung geben. Das muss sein.«
»Ja.«
»Sie bekommen dann Bescheid. Und die Eltern des Mädchens müssen informiert werden.«
Er klopfte Meyer auf den Rücken.
»Gut gemacht«, sagte er. »Sehen Sie zu, dass Sie ein bisschen Schlaf kriegen.«
Um zehn ließ man Hartmann gehen. Lund stand auf der anderen Seite des Flurs, fing wieder einen Blick von ihm auf, als er seine Sachen holte.
»Finden Sie nicht, dass Sie mir eine Erklärung schuldig sind?«, wandte sich Hartmann an Brix.
»Ich glaube nicht. Wenn Sie jetzt bitte unterschreiben …«
Hartmann nahm seine Krawatte und seine Armbanduhr. Setzte seine Unterschrift unter das Formular.
»Haben wir einen Deal?«, fragte er zögernd.
»In Bezug worauf?«
»Auf das … was ich Ihnen erzählt habe.«
Kein Funke von Gefühl in Brix’ starrem grauen Gesicht.
»Wir geben nur dann Stellungnahmen ab, wenn ein
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