Das Verbrechen: Kommissarin Lunds 1. Fall
Gesicht wenig verändert seit damals, als sie Jugendliche gewesen waren. Dunkles Haar, ausdruckslose Augen, eine billige silberne Halskette.
»Tu, was du tun musst, Theis. Ich kümmere mich um den Rest.«
Birk Larsen zündete sich eine Zigarette an, sah auf die Wände. Überall Fotos. Pernille. Nanna. Die Jungen.
»Ein paar Zeitungen haben angerufen. Ich hab gleich aufgelegt.«
Das Lager erwachte allmählich zum Leben. Kartons wurden am Fenster vorbeigetragen. Paletten bewegt. Transporter fuhren auf die Straße hinaus.
»Theis, ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Die gleiche Wollmütze, die gleiche rote Latzhose. Großer Bruder, kleiner Bruder. »Ich möchte helfen. Sag mir …«
Birk Larsen sah ihn an, schwieg.
»Wissen sie, wer’s war?«
Birk Larsen schüttelte den Kopf, zog an seiner Zigarette, versuchte an den Tagesplan zu denken, an nichts sonst.
»Sag mir Bescheid, wenn ich irgendwas …«, begann Skærbæk.
»Was ist mit der Lieferung in die Sturlasgade?«, fragte Birk Larsen. Seine ersten Worte an diesem Morgen. Skærbæk wartete.
»Die sollten eine Hebebühne kriegen.«
»Wird erledigt«, sagte Vagn Skærbæk.
Im Besprechungszimmer zeigte Meyer den Zivilfahndern ein Fahndungsfoto. Ein unscheinbarer Mann in einem schwarzen T-Shirt, in der Hand eine Gefangenennummer. Schütteres Haar, blaue Augen, Bartstoppeln, herabhängender grauer Hippie-Schnurrbart. Auf der rechten Wange eine lange Narbe, von einer Messerwunde offensichtlich. Gelangweilter Blick in die Kamera.
»Der Mann heißt John Lynge und wohnt in Nørrebro. In seiner Wohnung ist er nicht. Er ist ein bekannter Krimineller, und wir …« Er pinnte das Foto ans schwarze Brett. »… werden den Dreckskerl hinter Gitter bringen. Sprecht mit Nachbarn. Leuten, mit denen er gearbeitet hat. Dealern. In Kneipen. Leihhäusern. Mit jedem, der ihn kennt. Alter dreiundvierzig. Ein jämmerlicher einzelgängerischer Scheißkerl …«
Lund hörte im Büro nebenan zu, trank Kaffee, telefonierte mit ihrem Sohn. Sie hatte in einem freien Raum drei Stunden geschlafen. Fühlte sich nicht allzu schlecht.
»Der Mann hat keinen Plan«, verkündete Meyer, als gebe es daran keinen Zweifel. »Keinen Schlupfwinkel. Irgendwann muss er auftauchen und Luft holen. Und dann …«
Meyer klatschte in die Hände, so laut, dass es wie ein Schuss klang. Lund musste sich das Lachen verbeißen.
»Um den Schwedischunterricht kommst du nicht herum«, sagte sie zu Mark. »Wir werden schließlich dort leben. Bengt erklärt dem Lehrer, warum du später kommst. Das geht schon in Ordnung.«
Meyer hielt ein weiteres Foto von Nanna hoch. Noch hübsch. Kein Make-up, kein gezwungenes sexy Lächeln. Nicht so bemüht.
»Wir müssen alles über sie wissen. SMS, Mailbox, E-Mails. Irgendeine Verbindung zu Lynge.«
Mark wurde sauer.
»Wir fliegen heute Abend«, sagte Lund. »Ich ruf an, wenn ich den Flug gebucht habe.«
»Also dann, ab mit euch«, rief Meyer und klatschte wieder in die Hände.
Als die anderen gegangen waren, kam er zu Lund herüber und sagte: »Buchard will mit dir reden, bevor du gehst.«
Der alte Mann saß an Lunds ehemaligem Schreibtisch, vor sich das Fahndungsfoto von Lynge. Meyer rekapitulierte, was er in den Akten gefunden hatte.
»Vor dreizehn Jahren wurde er mit runtergelassenen Hosen auf einem Spielplatz erwischt. Ein Jahr später hat er ein Mädchen vergewaltigt. Eine Vierzehnjährige.«
Der Chef hörte zu. Lund stand in der Tür, die Tasse mit dem erkalteten Kaffee in der Hand. Buchards Miene gefiel ihr nicht.
»Sechs Jahre danach kam er in die geschlossene Psychiatrie. Vor anderthalb Jahren wurde er entlassen.«
Das alles zählte Meyer aus dem Gedächtnis auf, nach einem einzigen Blick in die Gerichtsakten. Beeindruckend, dachte Lund. Irgendwie.
»Warum ist er jetzt draußen?«, fragte Buchard.
Meyer zuckte die Schultern.
»Weil er nicht mehr als gefährlich gilt?«, sagte Lund.
»Das sagen sie immer.«
»Nicht immer, Meyer«, sagte Buchard. »Sarah?«
»Wir müssen mit ihm reden.«
Meyer warf in gespielter Begeisterung die Hände hoch.
»Das ist die Untertreibung des Jahres.«
Er spielte mit dem Polizeiauto. Ließ das Blaulicht blinken und die Sirene heulen. Wie ein Kind.
»Waren Sie das«, sagte Buchard. »Ich würde gern mit Sarah unter vier Augen sprechen.«
Meyer stellte das Auto übertrieben vorsichtig wieder auf den Schreibtisch.
»Also, wenn es mit dem Fall zu tun hat …«
Buchards Miene ließ ihn verstummen. Er hob die
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