Das Verbrechen: Kommissarin Lunds 1. Fall
die Menschen, die Musik, besonders aber der schimmernde Sarg.
Der Pfarrer. Ein dünner Mann mit einem zerfurchten, traurigen Gesicht. Schwarz gewandet, mit weißer Halskrause, tauchte er aus dem Dämmer beim Altar auf, warf einen Blick auf den Sarg mit dem Rosengebinde, ließ die Augen langsam über die dichtgedrängten, stummen Reihen wandern. Sagte mit eindringlicher Stimme, laut und theatralisch: »Wir nehmen heute Abschied von einem jungen Mädchen, das viel zu früh von uns genommen wurde.«
Im Halbdunkel verborgen, betrachtete Lund die Eltern. Pernille tupfte sich die Augen. Ihr Mann, ein angegrauter Löwe, blickte mit gesenktem Kopf und starrer Miene auf den Steinboden.
»Das ist so ungerecht«, fuhr der Pfarrer fort, in einem Ton, der Lund an einen Geschäftsbrief erinnerte. »So unbegreiflich.«
Sie schüttelte den Kopf. Nein. Das stimmte nicht. Konnte nicht stimmen.
»Und so fragen wir uns: Was ist der Sinn?«
Kemal – in Gedanken nannte sie ihn noch immer Rama – saß drei Reihen weiter hinten. Schwarzer Anzug, weißes Hemd. Dunkles, kurzgeschnittenes Haar.
»Wir stellen unseren Glauben in Frage, unser Vertrauen zueinander.«
Lund atmete tief ein, schloss die Augen.
»Und wir fragen uns: Wie können wir unseren Weg weitergehen?«
Sie erstarrte bei diesem schrecklichen, trügerischen Satz. Wehrte sich mit aller Macht dagegen. Niemand ging seinen Weg weiter. Man schluckte den Kummer hinunter. Man hoffte ihn zu begraben. Aber er blieb. Würde immer bleiben. Ein Kreuz, das man zu tragen hatte. Ein immer wiederkehrender Albtraum.
»Die Grundlagen des Christentums sind Frieden, Versöhnung und Vergebung. Aber Vergeben ist nicht leicht.«
Lund nickte. Dachte: Das stimmt.
Die Stimme des Pfarrers nahm einen hohen, vergeistigten Ton an: »Wenn wir aber vergeben, werden wir nicht länger von der Vergangenheit beherrscht. Und wir können in Freiheit leben.«
Lund betrachtete den Mann im schwarzen Talar mit der weißen Halskrause. Fragte sich: Was würde er sagen, wenn er in jener rauhen, kalten Nacht dort draußen am Kanal gewesen wäre? Theis Birk Larsen hätte schreien und toben sehen? Nannas tote Beine mit dem schmutzigen Wasser aus dem Kofferraum hätte gleiten sehen, die Aale gesehen hätte, die sich die nackten Beine hinabwanden? Würde er vergeben? Könnte er vergeben? Die Orgel setzte wieder ein. Lund registrierte, wer mitsang und wer nicht. Dann ging sie hinaus.
Sie wussten, dass der Lehrer bei der Trauerfeier war, und so ging Meyer mittags zu seiner Frau, um noch einmal mit ihr zu reden. Sie trug ein weites weißes Nachthemd und eine schwarze Strickjacke. Nicht lange, und er hatte sie so weit, dass sie auf die Anschuldigung einging, die das Mädchen vor einigen Jahren gegen ihren Mann erhoben hatte.
»Das ist eine dumme alte Geschichte«, sagte sie. »Dazu gibt es nichts zu sagen.«
»Rektorin Koch hat damals einen Bericht geschrieben.«
»Das Mädchen hatte das alles erfunden. Das hat sie auch zugegeben.«
»Wir haben mit jemandem aus der Schrebergartenkolonie in Dragø gesprochen. Dem Installateur.«
Kemals Frau verzog das Gesicht.
»Er hat Ihren Mann am Freitagabend gegen halb zehn wegfahren sehen.«
»Der kann uns nicht leiden. Aber unsere Heckenschere leiht er sich gern aus. Ich muss sie jedes Mal von ihm zurückverlangen.«
Was würde Lund tun, überlegte Meyer.
»Ist Ihr Mann nochmal weggefahren?«
»Ja. Zur Tankstelle.«
»Und wann ist er zurückgekommen?«
»Eine Viertelstunde später, nehm ich an. Ich war schon im Bett. Ich war so müde.«
»Das kann ich mir vorstellen. Wann haben Sie ihn wiedergesehen?«
»Gegen drei bin ich aufgewacht. Da lag er neben mir.«
Meyer dachte an Lunds lange Pausen. Ihren unerbittlichen, glitzernden Blick. Er zog seinen Anorak aus. Die Augen der Frau hefteten sich auf die Pistole, die er an der Hüfte trug.
»Zwischen halb zehn Uhr abends und drei Uhr morgens haben Sie Ihren Mann also nicht gesehen?«
»Nein. Aber ich bin mir sicher, dass er da war. Er liest gern noch, oder er sieht fern.«
Sie lächelte ihn an.
»Sind Sie verheiratet?«
»Ja.«
»Spüren Sie’s nicht, ob Ihre Frau da ist oder nicht …?«
Meyer antwortete nicht. »Waren Sie das ganze Wochenende dort draußen? Während hier die Böden abgeschliffen wurden?«
»Ja. Es gab Ärger mit den Handwerkern.«
Meyer stand auf, ging im Zimmer umher, besah sich das Baumaterial.
Schaute.
»Inwiefern?«
»Sie kamen nicht. Rama musste die Böden selbst abschleifen. Und den
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