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Das Verbrechen von Orcival

Das Verbrechen von Orcival

Titel: Das Verbrechen von Orcival Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Gaboriau
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ein geistreiches Wort entfährt, dann reut es ihn sofort. Er ist mit Leib und Seele seinem Amt verfallen, und niemand erfüllt mit mehr Gewissenhaftigkeit das, was er seine Pflicht nennt. Aber er ist dabei auch unflexibel wie kein anderer. Über einen Artikel im Gesetz streiten ist in seinen Augen eine Ungeheuerlichkeit. Das Gesetz schreibt vor, das genügt; er schließt die Augen, stopft sich die Ohren zu und gehorcht. Von dem Tag an, da eine Untersuchung beginnt, schläft er kaum noch, und er scheut keine Anstrengung, um hinter die Wahrheit zu kommen. Dennoch wird er allgemein als kein guter Untersuchungsrichter angesehen: mit aller Schläue gegen einen Verdächtigen vorzugehen widerstrebt ihm, einem Spitzbuben eine Falle zu stellen, in der er sich fängt, ist seiner Meinung nach unwürdig; und schließlich ist er hartnäckig, aber hartnäckig bis zum Verrücktwerden, bis zur Absurdität; das kann so weit gehen, daß er leugnet, daß mittags die Sonne am höchsten steht.
    Der Bürgermeister von Orcival und Vater Plantat hatten sich erhoben, um dem Untersuchungsrichter entgegenzugehen. Monsieur Domini begrüßte sie würdevoll, als würde er sie kaum kennen, und stellte ihnen einen Mann in den Sechzigern vor, der ihn begleitete.
    Â»Meine Herren«, sagte er, »das ist Doktor Gendron.« Plantat drückte dem Arzt die Hand, der Bürgermeister begrüßte ihn mit seinem schönsten offiziellen Lächeln.
    Das lag daran, daß Doktor Gendron in Corbeil und in der Umgebung wohlbekannt, ja trotz der Nachbarschaft des an Ärzten reichen Paris sogar berühmt war. Obwohl ein Praktiker von unvergleichlichem Geschick, der seinen Beruf mit leidenschaftlichem Können ausübte, verdankte er sein Renommee weniger seiner Wissenschaft als seiner Persönlichkeit. Man sagte von ihm: »Ein Original!« und bewunderte seine unabhängige, skeptische und direkte Art.
    Seine Krankenbesuche machte er, ob Sommer oder Winter, nur zwischen fünf und neun Uhr abends. Nach neun Uhr, dann hieß es Feierabend, kein Doktor mehr da, liebe Leute. Dann arbeitete der Doktor für sich, in seinem Laboratorium, wo er sich mit rätselhaften Dingen beschäftigte. Er sucht, so sagten die Leute, das Geheimnis, um seinen Reichtum und seine zwanzigtausend Pfund Rente durch die alchimistische Herstellung von Gold noch zu mehren.
    Er ließ sie reden. In Wirklichkeit widmete er sich mit Hilfe eines von ihm gebauten Apparates dem Verfahren, hinter die Geheimnisse der Alkaloide zu kommen, die man bisher noch nicht analysiert hatte. Wenn ihm seine Freunde, obwohl im Scherz, vorwarfen, seine Kranken zu vernachlässigen, antwortete er nur:
    Â»Du meine Güte! Ich bin vier Stunden Arzt am Tag. Für die Menschheit und die Menschlichkeit ist das mehr als genug! Was denkt ihr denn, wo wir wären, wenn jeder von euch soviel übrig hätte!«
    Währenddessen hatte der Bürgermeister die Neuankömmlinge in den Salon geführt, in dem er bereits sein Protokoll angefangen hatte niederzuschreiben.
    Â»Was für ein Unglück dieses Verbrechen für meine Gemeinde bedeutet! Was für eine Schande! Damit hat Orcival seinen guten Ruf verloren«, sagte er zu dem Untersuchungsrichter.
    Daraufhin berichtete er letzterem lang und breit, was seine summarische Untersuchung ergeben hatte, wobei er kein Detail ausließ und besonders auf seine bewundernswerten Vorsichtsmaßregeln, die er geglaubt hatte vornehmen zu müssen, verwies. Er schilderte, wie die Haltung der Bertaud seinen Verdacht erweckt, wie er sie in flagranti der Lüge überführt und sich blitzschnell dazu entschlossen habe, sie festzunehmen.
    Er redete im Stehen, den Kopf zurückgeworfen, als ob er zu einer Schar von Wählern spreche, und betonte jedes Wort. Und bei passender – oder auch nicht passender – Gelegenheit benutzte er Ausdrücke wie: »Wir als Bürgermeister von Orcival...« oder »Nichtsdestowenigertrotz...« Offensichtlich nahm ihm die Freude, reden zu dürfen, ein wenig von seiner Sorge.
    Â»In diesem Augenblick«, schloß er, »habe ich gerade Anweisung gegeben, auf das gründlichste nachzuforschen, um den Leichnam des Comte zu entdecken. Fünf von mir persönlich ausgesuchte Männer und sämtliche Dienstboten des Hauses untersuchen aufs sorgfältigste den Park. Sollte die Durchsuchung erfolglos bleiben, habe ich Fischer zur Hand, die

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