Das Verbrechen von Orcival
Verlauf.
»Sie denken also an ihn?« fragte er.
»Ob ich an ihn denke!« rief Monsieur Lecoq, den dieser Satz von seinem Sessel aufspringen lieÃ. »Aber sehen Sie denn nicht mein Samtkissen! Ich denke seit gestern ausschlieÃlich an diesen Kerl. Er ist der Grund, weshalb ich nachts kein Auge zugetan habe. Ich kriege ihn, ich will es, ich werde es!«
»Ich zweifle nicht daran«, warf der Friedensrichter ein, »aber wann?«
»Ah, das ist die Frage. Vielleicht morgen, vielleicht in einem Monat, das hängt von der Richtigkeit meiner Berechnungen, von der Exaktheit meines Planes ab.«
»Was? Sie haben bereits einen Plan?«
»Freilich.«
Vater Plantat war ganz Ohr.
»Ich gehe von dem Prinzip aus«, sagte der Beamte der Sûreté, »daà es für einen Mann, den eine Frau begleitet, unmöglich ist, den Nachforschungen der Polizei zu entgehen. Zudem ist unsere Frau jung, hübsch und schwanger â das alles fällt ins Gewicht.
Und Trémorel?
Ist er ein Mensch von auÃerordentlichem Ãberblick? Nein, denn wir haben ja seine Absichten durchschaut. Ist er ein Dummkopf? Mitnichten, denn immerhin hat er Leute getäuscht, die nicht eben dumm sind. Mithin ist er ein durchschnittlicher Mensch, der jedoch durch seine Bildung, seine Belesenheit, seine Verbindungen, den täglichen Umgang gewisse Vorteile hat, die er sich zunutze machen wird.
So sein Intellekt. Wir kennen auch seinen Charakter: träge, schwach, schwankend, nur in Notsituationen handelnd. Wir haben gesehen, daà er Angst vor endgültigen Entscheidungen hat, ständig nach Ausflüchten sucht, den direkten Weg scheut. Er hält seine Wünsche für Realitäten, macht sich Illusionen, er ist feige.
Wie ist seine Lage? Er hat seine Frau getötet, er hofft, daà man auch ihn für tot hält, er hat ein junges Mädchen entführt, er muà etwa eine Million bei sich haben.
Kann man nun, nachdem wir seine Lage kennen, seinen Charakter und seinen Intellekt, kraft unserer Ãberlegung und des gesunden Menschenverstandes voraussehen, was er in diesem oder jenem Falle tun wird?
Ich glaube schon, und ich hoffe, es Ihnen zu beweisen.« Monsieur Lecoq war aufgestanden und schritt nun sein Arbeitszimmer ab, wie er es immer tat, wenn er jemandem seine detektivische Theorie erklärte.
»Was tue ich«, fuhr er dozierend fort, »um das mögliche Verhalten eines Mannes zu bestimmen, dessen Absichten, Charakter und Intellekt mir bekannt sind? Zunächst entledige ich mich meiner Individualität und bemühe mich, in seine zu schlüpfen. Ich ersetze meine Intelligenz durch seine. Ich höre auf, ein Polizeibeamter zu sein, um dieser Mensch zu werden. Versuchen wir doch einmal herauszubekommen, welches die Beweggründe eines Mannes sein müssen, der gemein genug war, seinem Freund die Frau wegzunehmen und zuzulassen, daà man vor seinen Augen diesen Freund vergiftet. Wir wissen bereits, daà Trémorel lange gezögert hat, bevor er sich zu dem Verbrechen entschloÃ. Die Zwangsläufigkeit der Ereignisse, die nur Dummköpfe Geschick nennen, trieb ihn dazu. Ganz gewià hat er zuvor den Mord durchgespielt, die Folgen abgewogen, nach Möglichkeiten gesucht, um der Justiz zu entgehen. Alle seine Handlungen wurden lange vorher ausgedacht und festgelegt. In dem Augenblick, da das Verbrechen für ihn feststand, muà er sich gesagt haben: âºWenn Berthe ermordet wurde, dann muà man annehmen, man hätte auch mich umgebracht: Laurence wird von mir entführt und muà einen Brief schreiben, in dem sie ihren Selbstmord mitteilt; ich habe Geld, was machen wir damit?â¹
Natürlich muÃte Trémorel von allen Möglichkeiten der Flucht, die ihm durch den Kopf gingen, die für ihn sicherste wählen. Hat er daran gedacht, ins Ausland zu fliehen? Möglich. Nur, wenn er nicht von Sinnen war, dann war ihm auch klar, daà er vor allem im Ausland seine Spur nicht verwischen kann. Es gibt für die Polizei nichts Besseres, als wenn ein Verbrecher, um der Strafe zu entgehen, Frankreich verläÃt. Stellen Sie sich einen Mann und eine Frau in einem Land vor, dessen Sprache sie nur unvollkommen sprechen. Sofort erregen sie Aufmerksamkeit, werden beargwöhnt, beobachtet, verfolgt. Sie können nichts kaufen, sie können sich nicht frei bewegen, ohne Neugier zu erregen. Und je weiter man flieht, desto gröÃer ist die Gefahr,
Weitere Kostenlose Bücher