Das Verbrechen von Orcival
festgenommen zu werden. Vielleicht gar jenes freie Amerika erreichen, wo die Advokaten ihre Kunden nach Belieben schröpfen? Man muà sich einschiffen, und von dem Tag an, da man die Planken eines Schiffes betreten hat, ist man verloren. Ich wette zehn zu eins, daà bei der Ankunft im Hafen ein Polizist mit einem Haftbefehl wartet. Selbst in London würde ich innerhalb von acht Tagen einen Franzosen wiederfinden, zumindest wenn er nicht ein sauberes Englisch spricht.
Das müssen Trémorels Ãberlegungen gewesen sein. Er hat sich Tausender gescheiterter Versuche erinnert, die von den Zeitungen verbreitet wurden, und ich bin ziemlich sicher, daà er Abstand davon genommen hat, ins Ausland zu fliehen.«
»Einleuchtend«, stimmte Vater Plantat zu, »klar und präzise. Wir müssen die Flüchtenden in Frankreich suchen.«
»Jawohl, gewië, erwiderte Monsieur Lecoq. »Sie sagen es. Untersuchen wir doch einmal, wo und wie man sich in Frankreich verstecken kann. In der Provinz? Nein, ganz und gar nicht. In Bordeaux können sie keinen Schritt tun, wenn sie nicht von dort sind, ohne daà die Leute stehenbleiben und sich fragen: âºKennen Sie den?â¹ Wahrscheinlich gibt es nur zwei Städte, wo man unerkannt untertauchen kann: Marseille und Lyon. Aber sie sind zu weit entfernt, man muà eine lange Reise riskieren. Und nichts ist gefährlicher als die Eisenbahn seit Errichtung des elektrischen Telegraphen. Man flieht, man kommt rasch von der Stelle, das ist richtig, aber wenn man in den Zug steigt, verschlieÃt man sich jede weitere Möglichkeit des Entkommens und bleibt bis zu dem Augenblick, da man aussteigt, unter Aufsicht des Personals und damit auch der Polizei. Trémorel weià das alles genausogut wie wir. SchlieÃen wir also die Provinz aus. Auch Lyon und Marseille.«
»In der Tat unmöglich, sich in der Provinz zu verstecken.«
»So schränkt sich der Ort der Nachforschungen ein. Nicht das Ausland, die Provinz, die groÃen Städte â es bleibt Paris. Wir müssen Trémorel in Paris suchen, Herr Friedensrichter.«
Monsieur Lecoq drückte sich mit der GewiÃheit eines Mathematikprofessors aus, der vor der schwarzen Tafel steht, die Kreide in der Hand, und seinen Schülern demonstriert, daà sich zwei parallele Geraden nicht schneiden können, selbst wenn man sie ins Unendliche verlängern sollte.
Der Friedensrichter hörte ihm mit einer Aufmerksamkeit zu, wie sie gemeinhin den Schülern nicht eigen ist. Aber er wunderte sich nicht mehr. Seit nunmehr vierundzwanzig Stunden nahm er an Lecoqs Kombinationsgabe teil. Er fand es nur natürlich, so zu argumentieren. Dennoch schreckte ihn etwas ab.
»Paris ist groë, gab er zu bedenken.
Der Detektiv lächelte überlegen.
»Sie können ruhig sagen âºimmensâ¹, aber es gehört mir. Ganz Paris liegt unter der Lupe der Rue de Jérusalem wie ein Ameisenhaufen unter dem Mikroskop des Biologen. Und ich bin zu dem Schluà gekommen, daà sich unsere Flüchtlinge hier in der Gegend, vielleicht nur zwei StraÃen weiter, möglicherweise sogar im Nachbarhaus, versteckt haben. Aber überprüfen wir die Wahrscheinlichkeit meiner Behauptung.
Hector kannte sein Paris zu gut, um zu hoffen, sich eine Woche in einem Hotel oder in einem gemieteten Haus verbergen zu können. Er weiÃ, daà Hotels und möbliert gemietete Häuser von der Polizei scharf überwacht werden. Da er genügend Zeit hatte, wird er gewià eine Wohnung in einem ihm zusagenden Haus gemietet haben.«
»Das hat er sicher getan, denn er ist vor vier oder sechs Wochen drei-, viermal hintereinander nach Paris gefahren.«
»Er hat unter falschem Namen eine Wohnung gemietet, sie im voraus bezahlt, und heute ist er bei sich zu Hause.«
»Ich fürchte, Sie haben recht. Aber ist dann der Gesuchte nicht für uns verloren? Müssen wir warten, bis ihn uns der Zufall ausliefert? Wollen Sie alle Häuser in Paris, eines nach dem anderen, nach ihm absuchen?«
»Nun«, meinte Monsieur Lecoq, »wenn Trémorel eine Wohnung gemietet hat, dann muÃte er sich doch wohl darum kümmern, sie auch einzurichten.«
»Offensichtlich.«
»Und sie vor allem luxuriös zu möblieren. Einmal weil er Geld hatte und den Luxus liebte; zum anderen, weil er ein junges Mädchen aus reichem Hause entführt hatte und sie nun nicht in einer
Weitere Kostenlose Bücher