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Das Verbrechen von Orcival

Das Verbrechen von Orcival

Titel: Das Verbrechen von Orcival Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Gaboriau
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schnurrbärtige Gesicht eines weiblichen Wesens.
    Â»Sie wünschen?« bellte es ihm entgegen.
    Â»Monsieur Lecoq.«
    Â»Was wollen Sie von ihm.«
    Â»Wir sind für heute morgen miteinander verabredet.«
    Â»Ihr Name und Beruf?«
    Â»Vater Plantat, Friedensrichter in Orcival.«
    Â»Gut. Warten Sie.«
    Das Fenster schloß sich, und der Richter wartete.
    Â»Na so was! Scheint nicht jeder bei dem ehrenwerten Monsieur Lecoq vorgelassen zu werden«, brummelte er. Kaum hatte er diese Überlegung laut geäußert, da wurde die Tür auch schon geöffnet, nicht ohne ein gewisses Knirschen und kreischendes Gerassel.
    Er trat ein, und das weibliche Wesen führte ihn, nachdem sie ein Speisezimmer durchschritten hatten, in dem nur ein Tisch und sechs Stühle standen, in ein weiträumiges, hohes Zimmer, das zur Hälfte Ankleide-, zur anderen Hälfte Arbeitszimmer war und in das Licht aus zwei zum Hof gehenden Fenstern fiel, die mit dicken Eisenstäben vergittert waren.
    Â»Wenn Monsieur bitte Platz nehmen will«, sagte die Bedienstete, »Monsieur Lecoq wird gleich erscheinen, er gibt nur noch einem seiner Männer Instruktionen.«
    Aber der Friedensrichter setzte sich nicht; neugierig schaute er sich an dem merkwürdigen Ort um, an dem er sich befand Eine Wandseite diente als Kleiderständer, an dem die seltsamsten und verschiedensten Kleidungsstücke hingen. Da waren Kleider aus allen sozialen Schichten, vom Frack mit breitem Revers, dem letzten Modeschrei, an dem die rote Rose prangte, bis zur schwarzen Leinenbluse des Kanalarbeiters. Auf einem Brett über der Kleiderstange waren etwa ein Dutzend Perücken aller Nuancen über Holzköpfe gestülpt. Auf dem Fußboden standen diverse Schuhe, die zu den Kleidungsstücken paßten. Schließlich erblickte er in einer Ecke noch eine Auswahl von Stöcken, die jeden Sammler hätten vor Neid erblassen lassen.
    Zwischen Kamin und Fenster stand ein Toilettentisch aus weißem Marmor, der mit Pinseln und kleinen Farb- und Schminktöpfchen vollgestellt war; auch hier wäre jede Dame aus dem Marais sicher vor Neid erblaßt. An der anderen Wandseite befand sich ein Bücherregal, in dem wissenschaftliche Werke standen. Bücher über Physik und Chemie dominierten. Und zu guter Letzt beherrschte die Mitte des Zimmers ein breiter Schreibtisch, auf dem sich – zweifellos seit Monaten – Zeitungen und Papiere aller Art stapelten.
    Aber das Möbelstück – das heißt der Gegenstand, der in diesem Raum am merkwürdigsten wirkte – war eine Tafel aus schwarzem Velour, die neben dem Spiegel hing. Auf dieser Samttafel steckte eine Unmenge von Nadeln, deren Köpfe wie Brillanten funkelten und die so angeordnet waren, daß sie zwei Namen bildeten: HECTOR – JENNY.
    Diese Namen, die silbern auf dem schwarzen Samt funkelten, zogen die Blicke auf sich, wo auch immer man im Zimmer stehen mochte. Es mußte die Erinnerungstafel von Monsieur Lecoq sein. Zu jeder Stunde des Tages mahnten ihn die beiden Namen. Und ohne Zweifel waren es nicht die einzigen Namen auf dem schwarzen Samt gewesen, denn er war ziemlich zerstochen.
    Auf dem Schreibtisch lag ein angefangener Brief. Vater Plantat beugte sich über ihn, um ihn zu lesen, aber seine Indiskretion wurde ihm heimgezahlt: der Brief war chiffriert. Der Friedensrichter hatte seine Inspektion soweit beendet, als ihn das Geräusch einer sich öffnenden Tür herumfahren ließ.
    Er befand sich einem Mann gegenüber, der etwa sein Alter hatte, mit würdevollem Gesicht, gemessenen Bewegungen, ein wenig kahl, die Augen hinter einer goldgefaßten Brille verborgen und mit einem Schlafrock aus hellem Flanell bekleidet.
    Vater Plantat verbeugte sich leicht.
    Â»Ich warte hier auf Monsieur Lecoq...«, begann er.
    Der Mann mit der goldumrandeten Brille lachte lauthals auf und klatschte entzückt in die Hände. »Was denn, Verehrtester!« sagte er. »Sie erkennen mich nicht wieder? Aber das bin ich doch, ich, Monsieur Lecoq.
    Und um den Friedensrichter zu überzeugen, nahm er die Brille ab. Das konnte notfalls Lecoqs Blick sein, auch seine Stimme. Vater Plantat war verblüfft.
    Â»Ich hätte Sie nicht wiedererkannt.«
    Â»Stimmt, ich habe mich ein wenig verändert, Bürokleidung. Tja! Was wollen Sie, der Beruf...«
    Er bot seinem Besucher einen Sessel zum Platznehmen an.
    Â»Ich bitte Sie tausendmal um

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