Das Verbrechen von Orcival
aus.
Dieser unglaubliche Gefühlsausbruch des ansonsten so unbewegten und emotionslosen Friedensrichters schien Monsieur Lecoq zu verblüffen. Gleich werde ich alles wissen, dachte er. Aber laut sagte er:
»Wieso keinen Proze�«
Vater Plantat war weiÃer als sein Hemd geworden, ein nervöses Zucken hatte ihn befallen, seine Stimme klang gepreÃt.
»Ich würde mein Vermögen hergeben, wenn es nicht zur Verhandlung käme«, sagte er. »Jawohl, mein ganzes Vermögen und mein Leben obendrein, obwohl es nicht viel wert ist. Aber wie kann ich wohl verhindern, daà man diesen Kerl verurteilt? Welchen Vorwand könnte ich erfinden? Allein Sie, Monsieur Lecoq, können mir helfen. Wenn es ein Mittel auf der Welt gibt, dann werden Sie es wissen, Sie werden mich retten...«
»Aber, Herr Friedensrichter...«, begann der Detektiv. »Erbarmen! Hören Sie mir zu, und Sie werden begreifen. Ich will ganz offen sein und so ehrlich, wie ich es nur mir gegenüber bin, und Sie werden sich meine Zurückhaltung, mein Zögern, kurz, mein ganzes Verhalten seit gestern erklären können.«
»Ich höre.«
»Es ist eine traurige Geschichte. Ich war in dieses Alter gekommen, wo das Schicksal eines Mannes, wie man so schön sagt, zu Ende ist, als mir plötzlich der Tod meine Frau und meine beiden Söhne, all meine Freude und all meine Hoffnungen auf dieser Welt, hinweggerafft hat. Ich trieb einsamer als ein Schiffbrüchiger auf offener See inmitten des Lebens und hatte nicht einmal eine Planke, um mich daran festzuhalten. Ich war ein Körper ohne Seele, als mich der Zufall nach Orcival führte. In Orcival erblickte ich Laurence. Sie war eben fünfzehn geworden, und kein Geschöpf Gottes vereinte soviel Anmut, Klugheit, Unschuld und Schönheit.
Courtois war mein Freund, bald wurde sie wie eine Tochter für mich. Zweifellos liebte ich sie damals schon, aber ich gestand es mir nicht ein, ich verdrängte es. Sie war so jung, und ich hatte bereits weiÃes Haar. Ich gefiel mir darin, mich zu überzeugen, daà ich die Zuneigung eines Monsieurs für seine Tochter fühlte, und wie einen Monsieur behandelte sie mich auch. Ach, was waren das für köstliche Stunden, wenn ich ihrem munteren Geplapper und ihren naiven Geständnissen lauschte. Ich war glücklich, wenn ich sie durch meinen Garten laufen sah, wenn sie die Rosen pflückte, die ich nur ihretwegen züchtete, oder sie mein Gewächshaus plünderte; ich sagte mir, daà so ein Dasein wahrhaftig ein Geschenk Gottes sei. Ich stellte mir vor, daà sie mit einem anständigen jungen Mann verheiratet wäre und ich der väterliche Vertraute der jungen Ehefrau sein würde, wie ich der des jungen Mädchens gewesen bin. Mein Vermögen, das beträchtlich ist, sollte für ihre Kinder dasein; allein für sie häufte ich Güter an. Arme, arme Laurence.«
Monsieur Lecoq schien sich auf seinem Sessel nicht unbedingt wohl zu fühlen, er bewegte sich hin und her, hüstelte, wischte sich mit dem Taschentuch übers Gesicht und lief dabei Gefahr, seine »Identität« zu verunstalten. In Wahrheit fühlte er zu sehr mit, wollte es aber nicht zeigen.
»Eines Tages«, ergriff Vater Plantat wieder das Wort, »erzählte mir mein Freund Courtois, daà Laurence den Comte de Trémorel heiraten wolle. An diesem Tag spürte ich, wie sehr ich liebte. Ich fühlte eine Verzweiflung, die ich nicht beschreiben kann. Es war wie eine Feuersbrunst, die lange geschwelt hat und nun, als ob man ein Fenster geöffnet hätte, auflodert und alles verschlingt. Alt sein und ein Kind lieben! Mir war, als würde ich verrückt. Ich versuchte, klaren Kopf zu gewinnen. Aber was vermögen Verstand und Galgenhumor gegen die Leidenschaft. Alter balzender Gockel, sagte ich mir, willst du wohl nicht rot werden und schweigen! Ich schwieg und litt. Zu alledem hatte mich Laurence noch zu ihrem engsten Vertrauten gemacht; was für eine Tortur! Sie besuchte mich nur noch, um von Hector zu schwärmen. Sie bewunderte alles an ihm, und er schien ihr erhabener als andere Männer. Sie begeisterte sich an seiner Waghalsigkeit zu Pferde, sie fand seine kleinsten Bemerkungen auÃerordentlich. Ich war verrückt, sicher, aber sie war besessen.«
»WuÃten Sie denn, was für ein Schurke Trémorel war?«
»Ach, ich wuÃte es noch nicht. Was ging mich auch
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