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Das Verbrechen von Orcival

Das Verbrechen von Orcival

Titel: Das Verbrechen von Orcival Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Gaboriau
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Man wird sich fragen, ob sie tatsächlich keine Kenntnis von dem Mordplan gehabt hat; vielleicht hat sie den Comte dazu ermuntert? Berthe war ihre Rivalin, sie mußte sie hassen. Wäre ich Untersuchungsrichter, ich würde nicht zögern, Laurence in meine Anklage mit einzubeziehen.«
    Â»Sie und ich werden ihr beistehen, Monsieur, und Sie werden sehen, wir werden beweisen, daß sie schmählich getäuscht wurde.«
    Â»Wie auch immer. Sie wird deshalb nicht weniger entehrt, für immer verloren sein. Man wird sie verhören, sie muß auf die Fragen des Richters antworten, die Öffentlichkeit weidet sich an den Details ihrer Schande und ihres Unglücks. Ist es denn nicht so, daß sie aussagen muß, wo, wann und wie sie gestrauchelt ist, daß sie die Worte ihres Verführers wiederholt, die Zahl der Rendezvous angibt? Begreifen Sie, wie verzweifelt sie sein mußte, um selbst auf die Gefahr hin, daß sich ihre Familie vor Gram verzehrte, ihren Selbstmord anzukündigen? Nein, nicht wahr?«
    Â»Nein«, erwiderte der Detektiv, »lassen Sie uns nicht übertreiben. Sie wissen genausogut wie ich, daß die Justiz Unschuldige, deren Name kompromittiert zu werden droht, schonen kann.«
    Â»Schonung! Die Justiz sollte sich lieber vor dieser absurden Öffentlichkeit hüten, in der heutzutage Prozesse geführt werden! Sie mögen vielleicht die Herzen der Leute vom Gericht rühren, aber gelingt Ihnen das auch bei den fünfzig Journalisten, die schon ihre Federn wetzen, seit das Verbrechen von Orcival bekannt wurde? Sind denn die Zeitungen nicht hinter dem her, was die ungesunde Neugier der Menge kitzeln könnte? Denken Sie denn, daß sie uns zuliebe den Skandal nicht breittreten würden? Hat denn dieser Prozeß nicht alles, was den Erfolg eines Justizdramas ausmacht? Nichts fehlt! Weder der Ehebruch noch das Gift, weder das Rachemotiv noch der Mord. Laurence vertritt hierbei das romantische und sentimentale Element. Sie wird zur Heldin der Gerichtsbarkeit avancieren. Ach, wie uns das interessiert! werden die Leser der Gazette des Tribunaux schreien. Die Stenographen werden festhalten, wie oft sie errötet ist und wieviel Tränen sie vergossen hat. Man wird sich Mühe geben, so genau wie möglich ihre Person, ihre Haltung und ihre Toiletten zu beschreiben. Die Zeitungen werden sie öffentlicher machen als jedes öffentliche Mädchen, jeder Leser wird irgendwas über sie erfahren. Ist das nicht häßlich genug? Und nach dem Beschmutzen die Ironie. Die Fotografen werden vor ihrer Tür warten, und wenn sie sich weigert, von sich Aufnahmen machen zu lassen, wird man das Porträt irgendeiner Schlampe als das ihre ausgeben. Sie würde sich gern verbergen, aber wo? Hinter welchem Schloß und Riegel ist man denn vor ätzender Neugier sicher? Sie ist berühmt geworden. Die Kaffeestubenbesitzer werden sich um die Ehre reißen, ihr einen Stammplatz anzutragen, spleenige Engländer werden um ihre Hand anhalten. Was für eine Schande und was für eine Schmach! Wenn sie gerettet werden soll, Monsieur Lecoq, darf ihr Name nicht fallen. Ich bitte Sie: ist das möglich? Antworten Sie.«
    Der alte Friedensrichter sprühte vor Entrüstung, aber er sprach schlicht, ohne die pompösen Phrasen künstlicher Leidenschaft. In seinen Augen glommen kleine Feuerchen, er war jung, nicht älter als zwanzig, er liebte und verteidigte die geliebte Frau.
    Da der Polizeibeamte schwieg, sagte er noch einmal: »Antworten Sie!«
    Â»Wer weiß?« meinte Monsieur Lecoq.
    Â»Warum versuchen Sie mich zu täuschen?« erwiderte Vater Plantat. »Ich habe die gleichen Erfahrungen wie Sie mit der Justiz. Wenn Trémorel der Prozeß gemacht wird, ist es um Laurence geschehen. Und ich liebe sie! Ja, Ihnen wage ich es zu gestehen, Ihnen gebe ich Einblick in mein grenzenloses Unglück, ich liebe sie, wie ich noch nie jemand geliebt habe. Sie ist entehrt, wird verachtet, vielleicht bewundert sie gar noch diesen Schurken, von dem sie ein Kind erwartet, was kümmert's mich? Sehen Sie, ich liebe sie noch tausendmal mehr als vor ihrem Fehltritt, denn da liebte ich ohne Hoffnung, aber jetzt...«
    Er hielt inne und schien schockiert durch das, was er eben gesagt hatte. Er senkte den Blick vor dem Beamten der Sûreté und errötete ob seiner verwerflichen und dennoch so menschlichen Hoffnung, die er soeben kundgetan hatte. »Jetzt

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