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Das Verbrechen von Orcival

Das Verbrechen von Orcival

Titel: Das Verbrechen von Orcival Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Gaboriau
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die man gemeinhin nicht als Ware bezeichnet. Als Mann müßten Sie ihr einige Garantien bieten, als Frau brauchen Sie nur jung, hübsch und nicht gar zu widerspenstig zu sein, damit sich Madame Charman hundertprozentig für Ihre Interessen einsetzt. In diesem Geschäft hat sie viel Erfahrung, ohne nun gleich ein Vermögen angehäuft zu haben. Da sie unternehmungslustig ist, hat sie nämlich genausoviel Gewinne wie Verluste. Kurz, sie ist ehrlich. Im übrigen ähnelt sie auch gar nicht dieser schrecklichen, dicken, mit Ohrringen und Goldketten behängten Frau, die zu dem beschriebenen Typus genauso gehören wie die kratzende Stimme und die zynischen Gesten. Madame Charman ist blond, schlank, sanft, es mangelt ihr nicht an Zurückhaltung, und sie trägt stets, ob nun Winter oder Sommer ist, ein schwarzes Seidenkleid. Sie hat einen Mann, so heißt es, aber bisher hat ihn noch nie jemand gesehen, was jedoch ihren Ruf, nach Aussagen ihrer Concierge, nicht beeinträchtigt.
    So ehrbar auch das Gewerbe von Madame Charman sein mochte, sie hatte mehr als einmal mit Monsieur Lecoq zu tun gehabt, und sie brauchte ihn genauso, wie sie ihn andererseits fürchtete. Und so empfing sie den Beamten der Sûreté und dessen Begleiter – den sie selbstverständlich für einen Kollegen hielt – ein wenig so, wie ein Subalterner seinen Direktor empfängt.
    Sie erwartete sie. Nach dem Klingeln lief sie ihnen bis ins Vorzimmer entgegen, ein Lächeln auf den Lippen. Sie führte sie in ihren Salon, hieß sie in den bequemsten Sesseln Platz nehmen und bot ihnen sogar einige Erfrischungen an. »Wie ich sehe, Madame, haben Sie meine Nachricht erhalten«, sagte Monsieur Lecoq.
    Â»So ist es. Das war heute morgen, ich war noch im Bett.«
    Â»Sehr gut. Und konnten Sie etwas für mich tun?«
    Â»Himmel, Monsieur Lecoq, wie können Sie mich nur so was fragen. Sie wissen doch, daß ich für Sie durchs Feuer gehen würde. Ich habe mich sofort darum gekümmert.«
    Â»Demnach wissen Sie, wo sich Pélagie Taponnet, genannt Jenny Fancy, aufhält?«
    Â»Ja, Monsieur, jawohl«, antwortete sie, »Seien Sie unbesorgt. Ich bin durch ganz Paris gelaufen, habe mindestens zehn Francs für Kutschen ausgegeben, wirklich.«
    Â»Zur Sache, zur Sache«, drängte Monsieur Lecoq.
    Â»Die Wahrheit ist, daß ich Jenny erst vorgestern gesehen habe.«
    Â»Sie scherzen.«
    Â»Aber nicht doch. Es ist nämlich so. Sie schuldet mir seit annähernd zwei Jahren vierhundertundachtzig Francs. Natürlich habe ich gedacht, das Geld sehe ich nicht wieder. Aber da taucht doch vorgestern Jenny auf und sagt zu mir: ›Madame Charman, ich habe eine Erbschaft gemacht, hier ist das Geld, das ich Ihnen schulde.‹ Sie scherzte nicht, ihr Portemonnaie war voller Banknoten, und ich wurde vollkommen ausbezahlt.«
    Monsieur Lecoq und Vater Plantat tauschten einen Blick. Diese von Jenny erwähnte Erbschaft konnte nur der Preis für einen Dienst sein, den sie Trémorel erwiesen hatte. Der Detektiv wollte jedoch überzeugendere Beweise.
    Â»In welcher Lage war denn das Mädchen vor dieser Erbschaft?« fragte er.
    Â»Oh, Monsieur, in der allerschlimmsten Lage, gehen Sie. Seit sie der Comte verlassen hatte und sie ihr Erspartes in die Mode steckte, ging es nur noch bergab. Eine Dame, der es früher so gut ging! Alles, was sie besaß, hat sie nacheinander ins Pfandhaus getragen oder verkauft. In letzter Zeit hatte sie nur noch ganz schlechten Umgang, sie trank Absinth, hat man mir gesagt, und konnte sich nicht mal was zum Anziehen kaufen. Wenn sie Geld von ihrem Comte erhielt, denn er schickte noch immer welches, hat sie es mit liederlichen Frauenzimmern durchgebracht, anstatt sich Kleider zu kaufen.«
    Â»Und wo wohnt sie?«
    Â»Nicht weit von hier, in der Rue Vintimille.«
    Â»Wenn das so ist«, meinte Lecoq unwirsch, »wundere ich mich, daß sie noch nicht hier ist.«
    Â»Das ist nicht mein Fehler, Monsieur, wenn ich schon weiß, wo das Nest ist, so doch nicht, wo sich der Vogel aufhält. Sie war ausgeflogen heute morgen.«
    Â»Zum Teufel! Das ist ärgerlich.«
    Â»Seien Sie unbesorgt. Mein Dienstmädchen wartet bei der Concierge auf sie, und wenn sie auftaucht, bringt sie Jenny hierher.«
    Â»Also warten wir.«
    Monsieur Lecoq und Vater Plantat mußten etwa eine Viertelstunde warten, bis sich mit einemmal Madame

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