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Das Verbrechen von Orcival

Das Verbrechen von Orcival

Titel: Das Verbrechen von Orcival Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Gaboriau
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Charman erhob.
    Â»Ich glaube, ich höre mein Dienstmädchen die Treppe hochkommen.«
    Â»Hören Sie«, sagte Monsieur Lecoq, »wenn es so ist, dann lassen Sie sie in dem Glauben, Sie hätten sie rufen lassen; mein Freund und ich werden so tun, als seien wir nur zufällig hier.«
    Das Dienstmädchen öffnete die Tür zum Salon, und Jenny rauschte herein. Aber ach! Das war nicht mehr die frische und frohgemute Jenny, die Hector geliebt hatte; nicht mehr die freche Pariserin mit den großen Augen. Ein einziges Jahr hatte sie verblühen lassen, wie ein zu heißer Sommer die Rosen welken läßt, und erbarmungslos ihre beschwingte Schönheit – die Schönheit der Pariserin, die Schönheit des Teufels – zerstört. Sie sah nicht mehr wie zwanzig aus, und es bedurfte schon des Blickes eines Kenners, um zu ahnen, daß sie früher hübsch gewesen war.
    Denn sie war alt geworden wie das Laster, ihre müden Gesichtszüge und ihre eingefallenen Wangen verrieten die Unordnung in ihrem Leben; die schwarzumränderten, blutunterlaufenen und stets zwinkernden Augen wurden nicht mehr von langen Augenwimpern beschattet, ihr Mund wirkte beklagenswert stumpfsinnig, und der Absinth und obszöne Lieder hatten ihre Stimme kratzig gemacht. Dennoch war sie in großer Toilette, hatte ein neues Kleid an und einen unwahrscheinlichen Hut auf. Das verbarg kaum ihr schlechtes Aussehen. Sie hatte sich übertrieben geschminkt und prangte in Rot, Blau und Weiß.
    Sie schien aufgebracht.
    Â»Was soll das denn!« rief sie schon an der Schwelle, ohne irgend jemanden zu begrüßen. »Mich fast gewaltsam hierherschleppen?«
    Aber Madame Charman war auf ihre alte Kundin zugegangen, hatte sie wohl oder übel umarmt und an ihr Herz gedrückt.
    Â»Wie, meine Kleine«, sagte sie, »Sie sind verärgert, dabei wollte ich Sie doch überraschen. Ich bin nicht nachtragend. Gestern haben Sie Ihre kleine Rechnung beglichen, heute zeige ich mich dafür erkenntlich. Also, rasch, lächeln Sie, eine einmalige Gelegenheit, ich habe im Augenblick Samt am Lager...«
    Â»Das war ja wohl die Mühe wert, mich zu behelligen!«
    Â»Reine Seide, meine Liebe, dreißig Francs das Meter. Das ist doch billig genug, unwahrscheinlich...«
    Â»Ach, was geht mich Ihre Gelegenheit an! Samt im Juli, Sie spaßen wohl?«
    Â»Schauen Sie ihn doch erst einmal an.«
    Â»Nein. Ich werde zum Essen in Asnières erwartet.« Sie wollte sich trotz der ernsthaften Proteste von Madame Charman empfehlen. Monsieur Lecoq hielt es für angebracht, einzugreifen.
    Â»Aber das ist doch Jenny Fancy!« rief er aus. »Oder sollte ich mich so irren?«
    Sie schaute ihn halb verärgert, halb verblüfft an.
    Â»Ja, das bin ich. Was ist denn?«
    Â»Was! So vergeßlich sind Sie! Sie erkennen mich nicht mehr wieder?«
    Â»Nein.«
    Â»Trotzdem war ich einer Ihrer glühendsten Bewunderer, mein schönes Kind, ich hatte das Vergnügen, einmal mit Ihnen zu essen, als Sie neben der Madeleine wohnten; das war zuzeiten des Comte.«
    Er setzte seine Brille ab und tat, als wischte er seine Gläser sauber. Dabei warf er Madame Charman einen beredten Blick zu, die sich daraufhin diskret entfernte.
    Â»Früher war ich ziemlich oft mit Trémorel zusammen«, ergriff Lecoq wieder das Wort. »Apropos, haben Sie denn wieder etwas von ihm gehört?«
    Â»Ich habe ihn vor acht Tagen erst gesehen.«
    Â»Sieh an, sieh an. Also kennen Sie die entsetzliche Geschichte.«
    Â»Nein. Was denn?«
    Â»Wirklich, Sie wissen nichts? Lesen Sie denn keine Zeitung? Aber das ist doch eine schreckliche Geschichte, mein liebes Kind, und seit achtundvierzig Stunden redet man in Paris von nichts anderem.«
    Â»Nun, reden Sie schon.«
    Â»Sie wissen, daß er nach seinem Verschwinden die Witwe seines Freundes geheiratet hat. Man hielt ihn für glücklich. Aber mitnichten, er hat seine Frau ermordet. Mit einem Dolch erstochen.«
    Jenny wurde unter Ihrer Schminkschicht kreideweiß. »Ist das denn möglich!« stammelte sie.
    Zwar sagte sie: Ist das denn möglich!, aber wenn sie schon sehr bewegt war, so war sie doch nicht ungewöhnlich überrascht. Das bemerkte Monsieur Lecoq sehr wohl.
    Â»Es ist sehr gut möglich«, erwiderte er, »daß er jetzt schon im Gefängnis sitzt und von dort vor Gericht gestellt wird.« Vater Plantat beobachtete Jenny

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