Das Verbrechen von Orcival
verstehen, welche Höllenpein Madame Petit an diesem Unglückstag durchlitt, da die Comtesse und der Comte de Trémorel ermordet wurden.
Um elf Uhr hatte sie, nachdem sie erste Erkundigungen eingeholt hatte, das Essen vorbereitet. Kein Monsieur.
Sie hatte eine Stunde gewartet, zwei Stunden, fünf Stunden. Kein Monsieur.
Sie wollte Louis losschicken, um sich zu erkundigen, aber Louis, der wie jeder ernsthafte Mensch nur mit sich beschäftigt und wenig schwatzhaft und kaum voller Neugier war, entgegnete ihr, sie möge selbst gehen.
Zu allem Ãberdruà wurde das Haus noch von den Nachbarinnen belagert, die meinten, Madame Petit wäre wohl informiert und könne ihnen brühwarm das Neueste berichten. Nicht einmal das konnte sie denen bieten.
Gegen fünf schlieÃlich gab sie es auf, mit dem Essen auf ihn zu warten; dafür machte sie sich ans Abendessen.
Aber das war wohl auch vergebens! Als es vom neuen Glockenturm von Orcival acht Uhr schlug, war Monsieur immer noch nicht nach Hause gekommen.
Um neun Uhr endlich war sie so auÃer sich, daà sie Louis rief und mit ihm in der Küche melancholisch einen tiefen Teller Suppe auslöffelte.
Ein Klingeln unterbrach sie.
»Na endlich«, sagte sie. »Da ist ja Monsieur.«
Nein, es war nicht Monsieur, es war ein kleiner zwölfjähriger Junge, den der Friedensrichter von Schloà Valfeuillu losgeschickt hatte, um Madame Petit auszurichten, daà er zwei Gäste mitbrächte, die bei ihm essen und nächtigen würden.
Das warf die Köchin und Haushälterin um. Seit fünf Jahren lud Vater Plantat zum erstenmal wieder jemand zum Essen ein. Dahinter steckte doch irgend etwas.
So dachte Madame Petit, und ihr Zorn war genausogroà wie ihre Neugier.
»Um diese Zeit bei mir ein Abendessen bestellen!« brummelte sie. »Ich bitte dich, gehört sich das?« Doch dann überlegte sie, daà die Zeit drängte. »Los, Louis«, fuhr sie fort, »jetzt ist nicht die Zeit, die FüÃe unter den Tisch zu stecken. Hoch, mein Junge, du muÃt drei Hühnern den Hals umdrehen, und dann siehst du im Gewächshaus nach, ob es da nicht ein paar reife Weintrauben gibt, aber erst holst du mir noch ein paar Gläser Eingemachtes aus dem Keller...«
Sie war mitten beim Zubereiten, als es erneut klingelte. Diesmal war es Baptiste, der Diener des Bürgermeisters. Schlechtgelaunt brachte er die Tasche von Monsieur Lecoq.
»Hier«, sagte er zu der Haushälterin, »das Individuum, mit dem Euer Herr kommt, hat mir aufgetragen, das herzubringen.«
»Was für ein Individuum?«
Der Dienstbote, der nie ausgeschimpft wurde, spürte noch Monsieur Lecoqs festen Griff am Arm. Sein Groll war groÃ.
»Was weià ich!« antwortete er. »Ich habe mir sagen lassen, es ist ein Polyp, der wegen der Sache auf Valfeuillu von Paris hergeschickt wurde; nicht gerade ein Edelmann, schlecht erzogen, grob... und ein Betragen...«
»Aber er kommt nicht allein mit Monsieur?«
»Nein. Doktor Gendron ist noch dabei.«
Madame Petit hoffte, von Baptiste noch einige Neuigkeiten zu erfahren; aber Baptiste brannte darauf, schnell zurückzukehren, um zu wissen, was mit seinem Herrn geschah; er ging, ohne etwas gesagt zu haben. Reichlich eine Stunde verging noch, die wütende Madame Petit erklärte Louis gerade, daà sie das Essen zum Fenster hinauswerfen würde, als endlich der Friedensrichter mit seinen beiden Gästen erschien.
Kein Wort war zwischen ihnen gefallen, seit sie das Haus des Bürgermeisters verlassen hatten. Nach den Ereignissen des Abends verspürten sie das Bedürfnis, zu überlegen, sich zu sammeln und ihre Gedanken zu ordnen. Und so versuchte Madame Petit vergebens, als sie den Speisesaal betraten, in ihren Gesichtern zu lesen.
Aber sie war nicht Baptistes Meinung: sie fand, daà Monsieur Lecoq ein wenig einfältig, ja geradezu dümmlich dreinschaute.
Das Essen verlief zwangsläufig weniger schweigsam als der Nachhauseweg, aber in stillem Einvernehmen vermieden es der Doktor, Monsieur Lecoq und Vater Plantat, das Hauptereignis des Tages auch nur zu erwähnen.
Wenn man sie so behaglich schwatzend dasitzen sah, hätte man niemals vermutet, daà sie Zeugen, ja fast Teilnehmer in diesem noch voller Geheimnisse steckenden Drama auf Schloà Valfeuillu gewesen waren. Sicher, hin und wieder blieb eine Frage unbeantwortet, kam manchmal eine Erwiderung
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