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Das Verbrechen von Orcival

Das Verbrechen von Orcival

Titel: Das Verbrechen von Orcival Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Gaboriau
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auch ich nicht untätig. Ich habe mich ein bißchen umgeschaut, und unter den Möbeln fand ich das hier.«
    Â»Lassen Sie mal sehen.«
    Â»Das ist der Umschlag des Briefes an Mademoiselle Laurence. Wissen Sie, wo die Tante wohnt, bei der sie einige Tage verbracht hat?«
    Â»In Fontainebleau, glaube ich.«
    Â»Nun, dieser Umschlag trägt einen Poststempel von Paris, Postamt Rue Saint-Lazare, ich weiß, das beweist gar nichts...«
    Â»Es ist ein Indiz.«
    Â»Zudem habe ich mir erlaubt, den Brief von Mademoiselle Laurence, der offen auf dem Tisch lag, zu lesen.«
    Unwillkürlich runzelte Vater Plantat seine Brauen.
    Â»Gewiß, das ist nicht eben zartfühlend, aber der Zweck heiligt die Mittel! Na, Sie haben diesen Brief doch auch gelesen, Herr Friedensrichter, haben Sie über ihn nachgedacht, haben Sie die Schrift genau angeguckt, die Worte, die Anordnung der Sätze einmal studiert?«
    Â»Hah!« rief der Friedensrichter aus. »Wußte ich's doch! Sie hatten die gleiche Idee wie ich!«
    Und vor lauter Begeisterung ergriff er die Hände des Polizisten und drückte sie, als hätte er einen alten Freund vor sich. Er wollte noch etwas sagen, doch da hörten sie Schritte auf der Treppe. Doktor Gendron trat über die Schwelle. »Courtois geht es besser«, sagte er, »er ist am Einschlafen.«
    Â»Wir haben«, so ergriff der Friedensrichter das Wort, »demnach hier nichts mehr verloren, also gehen wir, Monsieur Lecoq muß halbtot vor Hunger sein.«
    Er gab den in der Vorhalle stehenden Dienstboten noch einige Anweisungen, dann verließ er mit seinen beiden Gästen das Haus.
    Der Polizeibeamte hatte den Brief an die arme Laurence und den Umschlag dieses Briefes in seine Tasche gleiten lassen.
    * * *
    K lein und schmal ist das Haus des Friedensrichters von Orcival: das Haus eines Bescheidenen. Drei große Zimmer im Erdgeschoß, vier kleinere im ersten Stock, eine Abstellkammer und Mansarden für die Dienstboten unter dem Dach.
    In allem spürte man die Gleichgültigkeit des Mannes, der sich vom Weltenlauf zurückgezogen und seit Jahren nur sich selbst genügte, ja geradezu aufgehört hatte, den Dingen, die ihn umgaben, Aufmerksamkeit zu schenken. Das früher sehr schöne Mobiliar war unmerklich abgenutzt worden, kaum gepflegt und nicht wieder erneuert. Das Schnitzwerk der klobigen Möbelstücke war verstaubt, die Uhren hatten aufgehört, die Stunden anzuzeigen, der Stoff der Sessel war abgescheuert, und die Sonne hatte die Farbe der Vorhänge ausgeblichen.
    Allein die Bibliothek verriet die Sorgfalt, die ihr gebührte. In langen gedrechselten Eichenregalen glänzten mit Leder bezogene und mit Goldschrift versehene Buchrücken. Ein fahrbares Tischchen neben dem Kamin war mit den bevorzugten Büchern Vater Plantats, den diskreten Freunden seiner Einsamkeit, beladen.
    Ein imposantes Gewächshaus, sorgfältig geführt und mit allen Errungenschaften der letzten Zeit ausgerüstet, war der einzige Luxus des Friedensrichters. Dort zog er in Töpfen voller fein durchsiebten Düngers im Frühjahr seine Petunien. Dort züchtete er die exotischen Pflanzen, mit denen Laurence gern ihren Blumentisch schmückte. Dort blühten die hundertsiebenunddreiBig Arten von Heidekraut.
    Zwei Bedienstete, die verwitwete Madame Petit als Köchin und Haushälterin und ein begnadeter Gärtner namens Louis bevölkerten mit ihm dieses Reich. Wenn dieses Reich nicht heiterer wirkte, wenn es nicht von fröhlichem Geschnatter erfüllt war, so deshalb, weil Vater Plantat, der kaum sprach, jedes Geschwätz verabscheute. Auf seinem Anwesen war Schweigen oberstes Gebot.
    Oh, für Madame Petit war das sehr hart, besonders zu Beginn. Sie war äußerst schwatzhaft, so schwatzhaft, daß sie, wenn niemand zum Reden da war, zur Beichte ging; beichten konnte man ja nur, wenn man redete. Zwei Dutzend Male wollte sie die Stelle wechseln und zwei Dutzend Male hielt sie die Aussicht auf eine höchst ehrenwerte und ihr gesetzlich zustehende Erbschaft zurück. Und so hatte sie sich mit der Zeit daran gewöhnt, die Revolten ihrer Zunge zu zähmen und zu schweigen.
    Aber der Teufel gibt nicht so schnell auf. Draußen rächte sie sich für die Entbehrungen drinnen und brachte die im Haus verlorene Zeit wieder ein. Nicht grundlos galt sie als eine der übelsten Zungen von Orcival.
    Man wird also sehr gut

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